
Wider besseren Wissens
Realität lässt sich durch Umdeutung nicht ändern
Eugen Ruge
Pompeji. Roman
Dtv, München 2023. 364 S., geb., 25 €
Pompeji ist ebenso explosiv wie glamourös untergegangen – die zu Stein gewordenen Reste eines auf Sklavenhaltertum gegründeten Luxuslebens kann man heute noch bewundern. Aber hätte die Katastrophe für seine Bewohner verhindert werden können, wenn sie gewusst hätten, was auf sie zukommt? Hätte das Wissen gereicht, um auch zu handeln? Würden wir heute handeln, wenn wir wissen, was auf uns zukommt?
Im römischen Imperium scheint die Welt kurz nach Christus noch in Ordnung. Kolonien wie die Landstadt Colonia Cornelia Veneria alias Pompeji sind soweit „zivilisiert“, dass deren (freie) Bürger sich selbst wie Römer fühlen dürfen, Sklaven die Arbeit und ein paar Wenige die großen Geschäfte machen. In diesem Sinne sind die sozialen Verhältnisse in dem Städtchen, das sich noch von einem Erdbeben im Jahr 62 erholt, stabil. Nur im „Vogelschutzverein“, der sich regelmäßig in einer alten Schmiede trifft, sammeln sich versprengte Oppositionelle – Pythagoreer, Epikureer, Kyniker, Sophisten und ein paar Radikalplatoniker, sozusagen die „üblichen Verdächtigen“. Rebellisch sind noch die Abgehängten und ein Vulkan. Als sich die Zeichen mehren, dass dieser vor dem Ausbruch steht, diskutieren die Gelehrten im „Vogelschutzverein“. Nur Josse, Sohn eines nach Pompeji Geflüchteten und damit „underdog“ und bildungsfern, bringt es auf den Punkt: „Wenn sich der Berg nicht bewegt, dann muss es die Stadt tun“. Und er geht voran – zunächst. Ohne Schulbildung, Geld und Einfluss gelingt es ihm, sich an die Spitze einer Aussteigerbewegung zu setzen. Diese erproben am „Fenster des Meeres“, einer Bucht an der Felsenküste, eine Neugründung der Stadt in Form einer Landkommune.
Bald fürchtet das Stadtoberhaupt Fabius Rufus, die Vulkangerüchte, die Kommune und der „Vulkanismus“ könnten Pompeji schaden, und leitet die üblichen Repressionsmaßnahmen ein, die die Bewegung grösser machen. Als dann noch einer der reicheren Bürger die Gefahr ernst nimmt und sich selbst dabei bereichert, schaltet sich Livia Numistria, die mächtigste Frau der Stadt ein. Verführt durch Ruhm und Reichtum, lässt sich Josse von ihr den Kopf und seine Ansichten verdrehen. Opportunistisch plädiert er - die Katastrophe vor Augen - für ein "Leben mit dem Vulkan".
Es ist unschwer zu erkennen, dass die Vergangenheit im dem Roman als Kulisse für die Gegenwart dient. Das antike Pompeji wird an vielen Stellen zum Spiegel der heutigen Gesellschaft. Dabei treffen die unterschiedlichsten Weltbilder aufeinander. Es gibt sowohl feministische Bestrebungen als auch Umweltschützer, aufrührerische Dogmatiker und Warner vor dem Imperialismus. Aber Achtung: der Roman enthält Spuren von Erotik. Das alles wuselt solange vor sich hin, bis es dem System gefährlich werden könnte, dann wird der Vulkanismus an die Kandare genommen und in seine gegenteilige Bedeutung überführt. Allein: Die Realität lässt sich nicht mit Umdeutungen verbiegen.
Wie der Autor dabei "triftige" Figurenzeichnungen mit komödiantischen Szenen und mit Andeutungen auf gegenwärtige Krisen verbindet, ohne die Geschichte in eine eindimensionale Parabel etwa auf die Klimakrise völlig aufgehen zu lassen, ist ebenso gekonnt wie erfrischend. Ich habe oft geschmunzelt und viel gelacht. Auf manchmal "urkomische" und so "absurde wie vertraute Weise" zeichnet Ruge gekonnt satirisch das Bild einer dekadenten Gesellschaft, die sehenden Auges auf ihren Untergang zusteuert.
Dr. Helmut Schaaf für die ehrenamtliche Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen