Buchtipp von Dr. Helmut Schaaf für den Förderverein Christine-Brückner-Bücherei

Alexander Osang
„Fast hell“
Aufbau Verlag, Berlin 2021,
237 Seiten, 22 Euro
Warum wurde nach dem Mauerfall 1989 eigentlich nur von den Ostdeutschen erwartet, sich westlichen Gepflogenheiten und Strukturen anzupassen und warum ist dieser Prozess – bis auf die Ampelmännchen - so gut wie nie in die andere Richtung verlaufen? Man könnte es ganz einfach beantworten mit: So sind eben die Machtverhältnisse. Das eine Wirtschaftssystem siegt über das andere und bringt damit auch seine Regeln mit. Dann wäre das Buch von Alexander Osang, einem der spannendsten ostdeutsch aufgewachsenen Autoren, aber kein Roman geworden. Das ist er aber, und darin spielen er und ein „Uwe“ aus Ostberlin die Hauptrollen.
Alexander Osang fühlt sich in dem neuen Deutschland wie in einem „30 Jahre währenden Resozialisierungsprogramm.“ und schreibt: „Meine Fremdheit hat weniger mit meiner Zeit im Osten zu tun als mit der Zeit danach“. „Uwe“ zieht seit Jahrzehnten heimatlos durch die Welt, weil ihm sein Land mit der DDR abhandengekommen ist. Diesen „Uwe“ und dessen verbitterte Mutter nimmt Osang als Kontrapunkt mit auf eine Schiffsreise von Helsinki nach Sankt Petersburg und zurück. Reisen und reden und darüber schreiben – das ist der Plan. Dabei sind zumindest die weißen Nächte über der Ostsee „fast hell“, aber trügerisch, so wie das Bild der Nachwendejahre. Uwe, der Berliner, der ein Haus in New York besitzt, in Russland studiert, in China und in Hongkong gelebt hat und dessen ostdeutsche Familie nach rechts abrutscht, bildet die Folie, auf der sich Osang spiegelt. In einer klugen Mischung aus Lakonie und Ironie schildert er seinen Aufbruch, seine Krisen, die Frauen, die Kinder, seine Jobs, die Zeiten des Umbruchs und wie sich das Leben in der Erinnerung zu einer Erzählung verdichtet, bei der die Wahrheit vielleicht die geringste Rolle spielt. In der Gegenüberstellung spiegelt Osang die Gefühle so vieler Ostdeutscher wider, so etwa das Getrieben Sein, ohne zu wissen, wohin, die Suche nach einer besseren Welt hinter der Mauer, das Gefühl, etwas nachholen zu müssen, oder froh zu sein, etwas hinter sich zu haben, und es gleichzeitig zu vermissen.
Das alles liest sich ungemein flüssig. Wer nicht das erste Buch von Osang in die Hand nimmt, wird darin den „Ich-empirischen Osang-Sound“ wiedererkennen, den der 1962 in Berlin geborene Journalist und Autor in drei Jahrzehnten perfektioniert hat. Im „Hallo“ besprochen wurde z.B. die „wundersame Fragen der Leitkultur: Darf man um seine Katze trauern, wenn Deutschland gerade Weltmeister wird? Osang hat die Gabe, die Linien zu verweben und seine Figuren leuchten zu lassen - auch sich selbst. Vergleichbar dem Kreuzfahrtschiff, auf dem sie reisen, steuert die Uwe/Alexander-Story auf ein wuchtiges Finale zu.