Aufmüpfige Frauen
Yaniv Iczkovits
Fannys Rache
Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester
Roman.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Unionsverlag: 608 Seiten
ISBN 978-3-293-00610-2
Der mitreißende Roman spielt im späten 19. Jahrhundert im Russischen Kaiserreich. Er ist bevölkert von hervorragend gezeichneten Figuren auf der Suche nach einer wie auch immer gearteten Erlösung, die unerreichbar bleibt.
Hat man das – scheinbar zu dicke Buch – erst einmal aufgeschlagen und sich der ersten Anrede hingegeben, wird es schwer, das Buch wieder wegzulegen,auch wenn die Nacht dunkler geworden ist. So beginnt die Ansprache an Leser und Leserinnen mi t der Anzeige einer sich grämenden, der Esther Hirsch, Tochter des Schlomo Wieselfisch:
Ich flehe die verehrte Leserschaft an, sich meiner zu erbarmen, einer einsamen und gramvollen Frau, da mein Mann mich verlassen hat, wahrend des Pessach-Fests, nur fünf Jahre nach der Hochzeit, obzwar wir drei gesunde Kinder haben. Auf den Weg nach Pinsk hat er sich gemacht, seinem Hausstand das tägliche Brot zu verdienen, und nach mir schicken und mich rufen wollt er, damit ich ihm nachkomm, bis zum Laubhüttenfest. Und nun hat sich seine Spur verloren, und man hat mir zugetragen, dass er gesehen wurde in einem Gästehaus in Minsk und hernach in einem Eisenbahnwaggon auf dem Weg nach Kiew. Und ich sitz untröstlich, in Bedrängnis,bloßgestellt, alles ermangelnd und keiner, der mir hilft. Deshalb, werte Leser, vielleicht weis einer von euch, an welchem Ort mein Mann jetzt weilt? Erbarmt euch meiner und erwirkt von ihm zum wenigsten den Scheidebrief, wie es vorgeschrieben ist.
Ich bin bereit und willens, Geld zu geben, gar fünfzig und hundert Rubel, dem in die Hand, der mich vom Joch meines Mannes befreit.“
So würde die ebenfalls von ihrem Mann verlassene Mende ihr Leid niemals offenbaren,statt dessen stürzt sie sich ins Wasser und verfällt in Trübsinn. Das ruft ihre Schwester,Fanny Kajsman auf den Plan, die das Elend nicht mehr ansehen kann. Bewaffnet mit einem Schlachtermesser und einer gehörigen Portion Starrsinn will sie ihren Schwager eigenhändig zurückholen.Zugute kommt Fanny, dass sie als junges Mädchen gelernt hat, Tiere zu schlachten, was in ihrer engen, isolierten jüdischen Gemeinde keinem typischen Frauenberuf entsprach und ihr den Ruf eines „wilden Biestes“ einbrachte. Aber schon damals waren die Straßen des Russischen (Kaiser )Reichs gefährlich, auch für wilde Mädchen.Da traf es sich scheinbar gut, dass sich ihr der stumme Fährmann Cicek Berschow, dessen Verbrechen es war, in eine bitterarme Familie hineingeboren zu sein,anschließt. Doch dann jagt ein Schlamassel das nächste, Fannys schlichter Plan wächst sich zu einer mittelgroßen Katastrophe aus .Als eine Spur von Leichen in Fannys Gefolge anfällt, folg tihr auch Piotr Novak,ein Agent der russischen Geheimpolizei, der eine Verschwörung gegen den Zaren vermutet.
Auf 600 Seiten werden dabei Fäden aufgegriffen ,verwoben (versponnen? ) und entwirrt, die überwiegend dem jiddischen Kosmos inmitten der fremdgebliebenen russischen Bevölkerung entspringen. Sieht man von denen ab, deren Kehle ebenso schnell wie fachgerecht durchtrennt wurde oder in sinnlosen Kriegen den gegnerischen Kanonen als Futter vorgeworfen wurden, bekommen die tragenden Charaktere eine ebenso ambivalente wie liebevolle Beschreibung in einer Sprache, die ihresgleichen sucht.
Am Ende, also ganz am Ende, gibt es sogar etwas wie ein happy end mit einem Hauch von Gerechtigkeit in einer absurden, unmoralischen Welt. Dem Schöpfer der Welt, der Himmel und Erde erschuf,und Yaniv Iczkovits, der diese Welt geschrieben hat, sei gedankt. Obwohl es 600 Seiten gedauert hat, habe ich keine überschlagen.
Dr. Helmut Schaaf für die ehrenamtliche Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen