Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest.

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag, München 2022. 695 Seiten, 30 Euro.
Orhan Pamuks neuer Roman "Die Nächte der Pest" erzählt von einem osmanischen Mikrokosmos im Mittelmeer, der sich um 1900 gegen eine Epidemie, religiösen Wahn, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Nationalismus behaupten muss. Dabei ähnelt vieles verblüffend den Nachrichten der Gegenwart.
Es war einmal …. eine Insel in der Ägäis von „beängstigender“ Schönheit, mit Häusern aus weißem Stein und grün überwachsenen Felsen. Die schöne Insel, die alle Ankommenden bei ihrem Anblick bezaubert, trägt den Namen Minger. Es gibt hier üppiges Grün, putzig rote Dächer und einen mächtigen weißen Burgfelsen. Pferdekutschen zuckeln übers Pflaster, die Menschen handeln, jeder in seinem Glauben, mit Rosenwasser, mit Düften, Salben und Pasten. Das erzählt uns eine osmanische Prinzessin, die dabei gewesen ist. Und wenn Sie nicht gestorben wären, könnte man denken, wäre es das Paradies auf Erden gewesen. Aber sie sind gestorben, und zwar schon lange, bevor Corona ein Dauerthema wurde. Die ansteckende Erkrankung war die Pest, die – tatsächlich – Ende des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert vor allem in Asien Millionen Todesopfer forderte.
Die Seuche durchdringt das Miteinander, legt menschliche Abgründe frei und vernichtet bislang liebgewonnene Gewissheiten mit zerstörerischer Kraft. Dabei sind natürlich „die Anderen“ Schuld, also für einen die Pilger aus Mekka, die den Erreger eingeschleppt haben sollen, für die anderen die Händler aus Alexandrien. Beim Leugnen der Krankheit, dem Ringen um Freiheit und Beschränkung, Wissenschaft, Vernunft und Verschwörungstheorien mischen mit: muslimische Scheichs und orthodoxe Priester, reiche Bürger und arme Schlucker, von westlichen Quarantänevorstellungen angetriebene Ärzte, korrupte, liebestolle Politiker, Spitzel und Spione und ein Nationalist namens Kommandant Kâmil. Als schließlich Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf sich allein gestellt. Die Blockade schützt aber auch die neuen Machthaber auf der Insel, die während der Seuche ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erklärt. Dass Kommandant Kâmil selbst früh von der Seuche dahingerafft wird, tut seinem Nachleben im neuen Staate keinen Abbruch.
Dieser aus der Katastrophe geborene Staat wirkt dann in vielem wie eine Miniatur der Republik Türkei, was dem türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk – schon wieder – eine Klage wegen Majestätsbeleidigung eingebracht hat. Tatsächlich wechseln sich in dieser epischen Erzählung Historisches und Fiktives übergangslos ab, so dass einem beim Lesen die Ebenen schon mal durcheinandergeraten können. Pamuk nimmt sich viel Zeit, um sich an einem Despoten abzuarbeiten, an Sultan Abdülhamit II., der in Reformen des Reichs einwilligt und die neue Verfassung rasch wieder kassiert. Der Alleinherrscher verfolgt seine Gegner mit Härte und nutzt den Islam als Machtmittel. Osmanisch nostalgisch wird es bei Pamuk nie.
Orhan Pamuk, der seine Heimat unendlich liebt und deshalb endlos mit ihr hadert, bringt das Kunststück fertig, sowohl ein Gruselmärchen als auch Geschichte geschrieben zu haben. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch – und lesenswert!
Dr. Helmut Schaaf für die notgeöffnete, ehrenamtliche Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen