
Von berührender Herzensgüte
Claire Keegan
Kleine Dinge wie diese.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl, Göttingen 2022. 110 Seiten
Es ist nicht die göttlich (durch das Engels-Wort) schwanger gewordene Maria, die mit Josef in ihrer Not um Hilfe bittet, sondern ein „gefallenes irisches Mädchen“, das einen Kohlenhändler erweicht, gegen seine Interessen zu handeln. Hingucken und weitermachen oder auf sein Herz hören?
In dem vom Steidl-Verlag schön gestalteten Roman entwickelt sich eine Weihnachtsgeschichte vor dem Hintergrund bitterer Not und religiöser Duldungsstarre, die mit einfachen Worten von Anfang an eine Spannung erzeugt, die bis zum Ende hoffen lässt.
Es ist kurz vor Weihnachten im bitterarmen Irland 1985. In der Stadt wird gebacken und gebraut. Es werden Geschenke gekauft, die Lichter glänzen, aber trotz der Rituale ist die Depression zum Greifen nah. "Es war ein Dezember der Krähen." Mittendrin bewegt sich der Holz- und Kohlenhändler Billy Furlong, ein aufrechter Mann, der seine sechsköpfige Familie gerade so durchbringt. Verlässlich und manchmal gut zahlt nur das Kloster seine Rechnungen und gibt zu Weihnachten sogar noch einen Bonus, mit dem seine Frau die Schulden beim Fleischer begleichen kann. Woher das Geld kommt, will niemand wirklich wissen. Aber wer es sich leisten kann, gibt seine Wäsche in die Magdalenen-Wäscherei im Kloster ab, und wer Pech mit seinen Töchtern hat, auch diese. So waschen sündig gewordene Mädchen zur Buße von früh bis spät Schmutzflecken aus den Laken. Ihre neugeborenen Kinder werden ihnen weggenommen und – so wollen Gerüchte wissen - ihre Babys ins Ausland verkauft.
Der Kohlenhändler Billy Furlong hat kein Interesse an Klatsch und Tratsch. Selbst mit dem Makel des Unehelichen aufgewachsen, schlägt er sich durch, ist freundlich und oft nachsichtig zu andern, die noch weniger haben als er. Hin und wieder gestattet er sich, von einem anderen Leben zu träumen. Eines Morgens ist er zu früh dran mit seiner Auslieferung und findet bei einer Kohlenlieferung ein in einen Kohleschuppen gesperrtes, ängstliches, durchfrorenes Mädchen, die Brüste voller Muttermilch. Man habe ihr den Sohn genommen, ob er sie mitnehmen könne, fortbringen von diesem Ort, mindestens bis in den nächsten Fluss. Die Mutter Oberin spielt die Fürsorgliche, beschwichtigt den verstörten Lieferanten und schickt ihn mit einem fetten Trinkgeld weg.
Zutiefst verstört bleibt er zurück. Es sind Frauen, seine eigene und eine Wirtin, die ihn warnen, sich nicht mit den Ordensschwestern anzulegen, die hätten ihre Finger überall im Spiel. Wie könnte er also, selbst wenn er wollte, sich gegen die mächtige katholische Kirche stellen und damit die Zukunft seiner Töchter aufs Spiel setzen, die er im katholischen Mädcheninternat anmelden möchte? Aber da ist etwas in Furlongs Vergangenheit, das ihn unterscheidet. Seine Mutter war sechzehn, als sie mit ihm schwanger wurde. Ihre Eltern wiesen ihr die Tür, aber – ausgerechnet - eine protestantische Witwe ermöglichte es ihrem Hausmädchen, samt Baby im großen Haus außerhalb der Stadt zu leben. Jetzt fragt er sich, ob es möglich ist, "ein ganzes Leben weiterzumachen, ohne einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen".
Claire Keegan braucht keine großen Worte, um das Hin- und Hergerissen sein ihres Protagonisten darzustellen. Auf knapp hundertzehn Seiten ist alles gesagt, wie Menschen das Grauen in ihrer Mitte ignorieren, um in ihrem Alltag fortfahren zu können, über eine Kette von Verschweige-Mechanismen und Abhängigkeiten, Komplizenschaft und Mitschuld, ohne ein Wort zu viel davon, dass es möglich ist, das Richtige zu tun.
Das Ende: offen.
Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2022) erschienen. Ihre Erzählung Kleine Dinge wie diese (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize. Ihr Roman Das dritte Licht wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und in Irland als The Quiet Girl, ebenfalls preisgekrönt, verfilmt.
Dr. Helmut Schaaf für die Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen