Buchtipps von Dr. Helmut Schaaf für den Förderverein Christine-Brückner-Bücherei e.V.
Jasmin Schreibers
Marianengraben, Roman
Eichborn Verlag, Köln 2020 ISBN, 256 S., 20,00 EUR
Paula ist in ihrer Trauer um den Tod ihres kleinen Bruders. Tim ist ertrunken, im Urlaub mit den Eltern, und nun ist Paulas Seele abgesunken an die die tiefste Stelle im Meer, im Marianengraben, ganz unten „elftausend Meter tief“, im „ewigen Ozean mit leuchtenden Quallen und blinkenden Tintenfischen.“
Ihren Trauerzustand beschreibt sie als „ganz unten in der Dunkelheit, wo es kein Licht mehr gibt, keine Farben und kaum noch Sauerstoff“, ihre Depression mit „Ich war ein Menschenkostüm, das Nichts enthielt“ oder „wie ein alter Rechner, der nur noch Fehlermeldungen auswarf, die aber alle keinen Inhalt hatten“ und ihren Schmerz: „Er kennt immer erst mal nur Stärke, der Auslöser ist egal. Schmerz fährt hoch, bis er einhundert Prozent hat, und dann steht man da und muss das irgendwie überleben, egal, was der Auslöser ist. Weil der Hund stirbt. Weil der Freund Schluss macht. Weil der Vater sich nicht mehr meldet. Weil der Bruder stirbt.“
Da ist viel Anrührendes, was einen schon mal das Buch zur Seite legen lässt, weil man mit Tränen in den Augen nicht gut lesen kann. Gleichzeitig hält sie uns die ersten hundertfünfzig Seiten mit originellen Metaphern, komischen Situationen und verblüffenden Analogien bei Laune. So hat sie das Gefühl, dass ihr Therapeut ihr „nur eine kleine Schöpfkelle in die Hand gibt, mit der sie das schwarze Wasser ganz unten im Marianengraben alleine auslöffeln soll.“
Aber natürlich bleibt es nicht dabei, es geht aufwärts, wenn auch zunächst ziemlich schräg auf dem Friedhof, wo eben nicht nur der kleine Bruder liegt, sondern auch die Urne eines zunächst erschreckend schrulligen „Alten“, der seiner Frau den letzten Wunsch erfüllen will. Und wir ahnen es, sie kommen zusammen, mit all der Tragik und mehr oder weniger erwartenden Überraschungen und manches klingt jetzt wie in Kalendersprüchen und manches wie aus Tagebüchern zu Jugendzeiten
Aber: Sie verstehen sich, weil niemand sie versteht, und das hilft.
Während die 20-Jährige lange nur Zwiesprache mit ihrem toten Bruder hält, hat der Endsiebziger keinen Sinn für Sentimentalitäten, auch nicht für Paulas Tierrettungsideen und Selbstmordsehnsüchte. Dafür hat er eine schwache Blase, und wird gescholten, weil er beim Gang hinter den Busch Blumen umknickt und Käfer zertritt. Außerdem trägt er eine geheimnisvolle Kiste mit sich. Und obwohl in Marianengraben viel gestorben wird – Hunde, Hühner, Brüder, Schwestern, Ehepartner, Eltern, Omas – geht es letztlich aufwärts, ins Licht, an die Wasseroberfläche, zuletzt auf einen Berg. Da könnte man die Geschichte schon „konstruiert“ nennen.
Jasmin Schreiber ist Biologin, jung und ehrenamtlich Sterbebegleiterin. Sie kennt die Bilder, die Menschen schaffen, wenn die Realität unaussprechlich scheint.. Ihr Debütroman ist wohl kein literarisches Meisterwerk, aber es gelingt gewiss, die Schönheit der Tiefsee zu beschreiben und über weite Strecken, Schweres leicht und ebenso berührend zu erzählen.