Lesetipps

Von berührender Herzensgüte

Claire Keegan

Kleine Dinge wie diese.

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl, Göttingen 2022. 110 Seiten


Es ist nicht die göttlich (durch das Engels-Wort) schwanger gewordene Maria, die mit Josef in ihrer Not um Hilfe bittet, sondern ein „gefallenes irisches Mädchen“, das einen Kohlenhändler erweicht, gegen seine Interessen zu handeln. Hingucken und weitermachen oder auf sein Herz hören?
In dem vom Steidl-Verlag schön gestalteten Roman entwickelt sich eine Weihnachtsgeschichte vor dem Hintergrund bitterer Not und religiöser Duldungsstarre, die mit einfachen Worten von Anfang an eine Spannung erzeugt, die bis zum Ende hoffen lässt.
Es ist kurz vor Weihnachten im bitterarmen Irland 1985. In der Stadt wird gebacken und gebraut. Es werden Geschenke gekauft, die Lichter glänzen, aber trotz der Rituale ist die Depression zum Greifen nah. "Es war ein Dezember der Krähen." Mittendrin bewegt sich der Holz- und Kohlenhändler Billy Furlong, ein aufrechter Mann, der seine sechsköpfige Familie gerade so durchbringt. Verlässlich und manchmal gut zahlt nur das Kloster seine Rechnungen und gibt zu Weihnachten sogar noch einen Bonus, mit dem seine Frau die Schulden beim Fleischer begleichen kann. Woher das Geld kommt, will niemand wirklich wissen. Aber wer es sich leisten kann, gibt seine Wäsche in die Magdalenen-Wäscherei im Kloster ab, und wer Pech mit seinen Töchtern hat, auch diese. So waschen sündig gewordene Mädchen zur Buße von früh bis spät Schmutzflecken aus den Laken. Ihre neugeborenen Kinder werden ihnen weggenommen und – so wollen Gerüchte wissen - ihre Babys ins Ausland verkauft.
Der Kohlenhändler Billy Furlong hat kein Interesse an Klatsch und Tratsch. Selbst mit dem Makel des Unehelichen aufgewachsen, schlägt er sich durch, ist freundlich und oft nachsichtig zu andern, die noch weniger haben als er. Hin und wieder gestattet er sich, von einem anderen Leben zu träumen. Eines Morgens ist er zu früh dran mit seiner Auslieferung und findet bei einer Kohlenlieferung ein in einen Kohleschuppen gesperrtes, ängstliches, durchfrorenes Mädchen, die Brüste voller Muttermilch. Man habe ihr den Sohn genommen, ob er sie mitnehmen könne, fortbringen von diesem Ort, mindestens bis in den nächsten Fluss. Die Mutter Oberin spielt die Fürsorgliche, beschwichtigt den verstörten Lieferanten und schickt ihn mit einem fetten Trinkgeld weg.
Zutiefst verstört bleibt er zurück. Es sind Frauen, seine eigene und eine Wirtin, die ihn warnen, sich nicht mit den Ordensschwestern anzulegen, die hätten ihre Finger überall im Spiel. Wie könnte er also, selbst wenn er wollte, sich gegen die mächtige katholische Kirche stellen und damit die Zukunft seiner Töchter aufs Spiel setzen, die er im katholischen Mädcheninternat anmelden möchte? Aber da ist etwas in Furlongs Vergangenheit, das ihn unterscheidet. Seine Mutter war sechzehn, als sie mit ihm schwanger wurde. Ihre Eltern wiesen ihr die Tür, aber – ausgerechnet - eine protestantische Witwe ermöglichte es ihrem Hausmädchen, samt Baby im großen Haus außerhalb der Stadt zu leben. Jetzt fragt er sich, ob es möglich ist, "ein ganzes Leben weiterzumachen, ohne einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen".
Claire Keegan braucht keine großen Worte, um das Hin- und Hergerissen sein ihres Protagonisten darzustellen. Auf knapp hundertzehn Seiten ist alles gesagt, wie Menschen das Grauen in ihrer Mitte ignorieren, um in ihrem Alltag fortfahren zu können, über eine Kette von Verschweige-Mechanismen und Abhängigkeiten, Komplizenschaft und Mitschuld, ohne ein Wort zu viel davon, dass es möglich ist, das Richtige zu tun.
Das Ende: offen.

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2022) erschienen. Ihre Erzählung Kleine Dinge wie diese (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize. Ihr Roman Das dritte Licht wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und in Irland als The Quiet Girl, ebenfalls preisgekrönt, verfilmt.


Dr. Helmut Schaaf für die Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen

 

Wider besseren Wissens

Realität lässt sich durch Umdeutung nicht ändern

Eugen Ruge

Pompeji. Roman

Dtv, München 2023. 364 S., geb., 25 €

Pompeji ist ebenso explosiv wie glamourös untergegangen – die zu Stein gewordenen Reste eines auf Sklavenhaltertum gegründeten Luxuslebens kann man heute noch bewundern. Aber hätte die Katastrophe für seine Bewohner verhindert werden können, wenn sie gewusst hätten, was auf sie zukommt? Hätte das Wissen gereicht, um auch zu handeln? Würden wir heute handeln, wenn wir wissen, was auf uns zukommt?

Im römischen Imperium scheint die Welt kurz nach Christus noch in Ordnung. Kolonien wie die Landstadt Colonia Cornelia Veneria alias Pompeji sind soweit „zivilisiert“, dass deren (freie) Bürger sich selbst wie Römer fühlen dürfen, Sklaven die Arbeit und ein paar Wenige die großen Geschäfte machen. In diesem Sinne sind die sozialen Verhältnisse in dem Städtchen, das sich noch von einem Erdbeben im Jahr 62 erholt, stabil. Nur im „Vogelschutzverein“, der sich regelmäßig in einer alten Schmiede trifft, sammeln sich versprengte Oppositionelle – Pythagoreer, Epikureer, Kyniker, Sophisten und ein paar Radikalplatoniker, sozusagen die „üblichen Verdächtigen“. Rebellisch sind noch die Abgehängten und ein Vulkan. Als sich die Zeichen mehren, dass dieser vor dem Ausbruch steht, diskutieren die Gelehrten im „Vogelschutzverein“. Nur Josse, Sohn eines nach Pompeji Geflüchteten und damit „underdog“ und bildungsfern, bringt es auf den Punkt: „Wenn sich der Berg nicht bewegt, dann muss es die Stadt tun“. Und er geht voran – zunächst. Ohne Schulbildung, Geld und Einfluss gelingt es ihm, sich an die Spitze einer Aussteigerbewegung zu setzen. Diese erproben am „Fenster des Meeres“, einer Bucht an der Felsenküste, eine Neugründung der Stadt in Form einer Landkommune.

Bald fürchtet das Stadtoberhaupt Fabius Rufus, die Vulkangerüchte, die Kommune und der „Vulkanismus“ könnten Pompeji schaden, und leitet die üblichen Repressionsmaßnahmen ein, die die Bewegung grösser machen. Als dann noch einer der reicheren Bürger die Gefahr ernst nimmt und sich selbst dabei bereichert, schaltet sich Livia Numistria, die mächtigste Frau der Stadt ein. Verführt durch Ruhm und Reichtum, lässt sich Josse von ihr den Kopf und seine Ansichten verdrehen. Opportunistisch plädiert er - die Katastrophe vor Augen - für ein "Leben mit dem Vulkan".

Es ist unschwer zu erkennen, dass die Vergangenheit im dem Roman als Kulisse für die Gegenwart dient. Das antike Pompeji wird an vielen Stellen zum Spiegel der heutigen Gesellschaft. Dabei treffen die unterschiedlichsten Weltbilder aufeinander. Es gibt sowohl feministische Bestrebungen als auch Umweltschützer, aufrührerische Dogmatiker und Warner vor dem Imperialismus. Aber Achtung: der Roman enthält Spuren von Erotik. Das alles wuselt solange vor sich hin, bis es dem System gefährlich werden könnte, dann wird der Vulkanismus an die Kandare genommen und in seine gegenteilige Bedeutung überführt. Allein: Die Realität lässt sich nicht mit Umdeutungen verbiegen.

Wie der Autor dabei "triftige" Figurenzeichnungen mit komödiantischen Szenen und mit Andeutungen auf gegenwärtige Krisen verbindet, ohne die Geschichte in eine eindimensionale Parabel etwa auf die Klimakrise völlig aufgehen zu lassen, ist ebenso gekonnt wie erfrischend. Ich habe oft geschmunzelt und viel gelacht. Auf manchmal "urkomische" und so "absurde wie vertraute Weise" zeichnet Ruge gekonnt satirisch das Bild einer dekadenten Gesellschaft, die sehenden Auges auf ihren Untergang zusteuert.

Dr. Helmut Schaaf für die ehrenamtliche Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen

 

Buchtipp

 

Vom Vorteil eines eigensinnigen Lebens

Adriana Altaras
Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2023,      240 S., 22,00 Euro

Adriana Altaras erzählt von ihrer Tante, der schönen Teta Jele. Von einer Frau, die 101 Jahre alt wurde, die spanische Grippe, das KZ und ihre norditalienische Schwiegermutter überlebte. Von einer so liebevollen wie eigensinnigen Beziehung, und davon, wie man lernt, das Leben anzunehmen.
Auf dem Höhepunkt von Covid-19 sitzt die Tante fest, ausgerechnet zu ihrem 100. Geburtstag. Italiens Mantua ist »rote Zone«, alles ist zu, verschlossen, abgeriegelt. Die Tante kann nicht raus und die Nichte kann nicht rein. Wäre sie wie die Tante, käme sie vielleicht heimlich über die Alpen, wie eine Partisanin. Aber ohne Hollywood-Musik. Das traut sie sich dann doch nicht.
Deswegen hat sie die Tante am Telefon gefragt, ob sie noch leben möchte. Diese hat ganz klar geantwortet: Ja. Sie ist eine Greisin, sie lebt im Pflegeheim, sie hört wenig und sieht noch weniger, aber sie ist nicht lebensmüde. Die Nichte hat sie schon früher oft gefragt: Wie geht das, leben? Sie hat dann einen Moment nachgedacht, gelächelt und weise, wie sie ist, keine Antwort gegeben. Dabei hätte gerade sie wenig Grund zum Lächeln. Im Mai 1920 geboren, wuchs sie in Zagreb auf. Ihr Vater führte ein großes Glas- und Porzellangeschäft, bis die Deutschen 1941 das Königreich Jugoslawien eroberten. Jelka, ihre Mutter und die Schwester Thea kamen in ein KZ auf der Insel Rab. Im September 1943 organisierten die Häftlinge ihre Selbstbefreiung. Jelka vertraute sich einem italienischen Deserteur an, der sie nach Mantua mitnahm und dort bis Kriegsende auf dem Dachboden seines Hauses versteckte. Aus Dank heiratete sie den Katholiken und litt fortan unter ihrer Schwiegermutter und deren Schwester, die nicht begreifen konnten, warum der Sohn eine großbürgerliche Jüdin ins Haus gebracht hat.
Als die Eltern der Nichte aus Zagreb fliehen mussten, wird diese mit vier Jahren zu ihrer Tante nach Italien geschmuggelt (Siehe „Titos Brille“). Dorthin wird sie ihr Leben lang zurückkehren, auch mit all ihren Liebhabern, die Tantchens aristokratischem Blick standhalten müssen.
Die Tante lebte nach dem Tod des Gatten, den sie als Befreiung empfand, bis vor einem Jahr allein, bzw. mit einem Hund. Die Hunde wurden mit der Zeit kleiner, sie auch. Sie trank ihren Cappuccino am Morgen, dann ging sie spazieren und freute sich des Lebens. Einfach so.
Als der Nichte der Ehemann verloren geht, ist es wieder die inzwischen 98-jährige Tante, die ihr am Gardasee mit jeder Menge Pasta, pragmatischen Ratschlägen und Barbesuchen zur Seite steht
Adriana Altaras' fünftes Buch, behandelt lebensbejahend und heiter anhand zweier Frauenschicksale das Bewusstsein des Altwerdens und des „Ungeheuer-Altwerdens“. Auf jedes von Adriana erzählte Kapitel folgt eines im inneren Monolog der Tante, sodass die Perspektiven von Nichte und Tante einander abwechseln. Sie kommentieren das Geschehen im Pflegeheim, kritisieren das Leben der Nichte und verfangen sich in Erinnerungen. Dabei überlässt sich die 100-Jährige nicht dem Bedauern und Betrauern eines unerfüllten Lebens: "Ach, das Leben ist, was es ist. Wieso glauben wir, es wäre da, um uns glücklich zu machen." Schmerz, Wut und Trauer fehlen – jedenfalls im Buch, so dass es fast schon zu schön anmuten könnte.
Ähnlichkeiten zwischen der Biographie der Autorin und ihrer Figur Adriana verführen dazu, das Buch autobiographisch zu lesen. Doch die fiktionalen Strukturen des Textes sind überdeutlich. So war es möglich, ein zartes, bewegendes und zugleich irre komisches Porträt einer wunderbar kapriziösen Frau zu entwerfen. In dieser "ruhigen Positivität" darf man sich geborgen fühlen.
Dr. Helmut Schaaf für die ehrenamtliche Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen

 

Ingeborg Bachmann, Max Frisch
"Wir haben es nicht gut gemacht."

Der Briefwechsel

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2022, 1039 S.,
gebunden mit Fotografien und Faksimiles. 40,00 EU


Im Frühjahr 1958 bringt Ingeborg Bachmann das Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ im Radio auf Sendung. Max Frisch ist mit Inszenierungen von „Biedermann und die Brandstifter“ beschäftigt. Er schreibt der "jungen Dichterin", wie begeistert er von ihrem Hörspiel ist. Daraufhin beginnt ein Briefwechsel, der bis lange nach der Trennung in fast 300 überlieferten Schriftstücken Zeugnis ablegt vom Leben, Lieben und Leiden der – damals – wohl berühmtesten Liebesbeziehung der deutschsprachigen Literaturszene.
Darf man dieses Buch mit persönlichsten Briefen aus dem Nachlass von Max Frisch überhaupt lesen? Ingeborg Bachmann jedenfalls wünschte, dass ihr Briefwechsel „für immer in Deinem und meinem Schweigen aufgehoben ist." Hätte der Adressat, Max Frisch, nicht bei seinen maschinengeschriebenen Briefen Durchschläge angefertigt, würde sein Drittel an dieser leidenschaftlichen und leidenden Korrespondenz fehlen.
Als die zweiunddreißigjährige Österreicherin und der fünfzehn Jahre ältere Schweizer zusammenfanden, waren sie bereits Stars des Literaturbetriebs: Ingeborg Bachmann hatte mit ihrem zweiten Lyrikband, "Anrufung des großen Bären", den Erfolg ihres drei Jahre zuvor erschienenen Debüts "Die gestundete Zeit" noch übertroffen. Max Frisch war mit "Stiller" (1954) und "Homo faber" (1957) einer der meistgelesenen deutschsprachigen Romanciers. Zudem hatte er im März 1958 sein epochemachendes Drama "Biedermann und die Brandstifter" zur Premiere gebracht.
Trotz der wechselseitigen literarischen Bewunderung trafen sie sich persönlich erst am 3. Juli 1958 in Paris. Dabei scheint sie von ihm sofort eine Entscheidung zur Liebe verlangt zu haben, denn drei Tage später schreibt Max Frisch ihr: "Du trittst in mein Leben, Ingeborg, wie ein langerwarteter Engel, der da fragt Ja oder Nein." Mit seinem „Ja“ wollte Frisch wohl „im Prinzip“ eine ihm ebenbürtige Partnerin gewinnen, er fühlte sich Bachmann aber - so lässt es sich aus den Briefen lesen - in literarischer und sozialer Hinsicht unterlegen. Zwar unterstützte er sie in ihren literarischen Vorhaben, litt aber zugleich darunter, dass sie nicht wie eine liebende Gattin immer bei ihm war, sondern fest entschlossen blieb, als Schriftstellerin Karriere zu machen und „immer“ unterwegs auf Lesereise war. Kaum fünf produktive und qualvolle Jahre später blieben nur noch Scherben. Max Frisch rettet sich zu einer Frau ohne eigene literarische Ambitionen, Ingeborg Bachmann zerbricht daran, dass sie von Frisch aus dessen Leben, auch als Dialogpartner, „verstoßen“ wird.
Ahnen konnte und wollte man von den Höhen und Tiefen des sich anschließenden Beziehungsdramas durch Bachmanns Roman "Malina" und Frischs "Mein Name sei Gantenbein“. Beide Romane boten reichlich Stoff zur Legendenbildung, etwa mit dem Vorwurf, dass Max Frisch das Leben Ingeborg Bachmanns verpfuscht und sie dadurch in den frühen Tod getrieben habe. Eine andere Legende war, dass Ingeborg Bachmann als eine Jeanne d'Arc der Literatur gar nicht anders konnte, als schrecklich zu enden.
Zum Einschlafen ist der Briefwechsel mit den 400 angehängten Seiten sorgfältig erarbeiteten Quellen nicht. Man fiebert und leidet mit - wie in einem Roman, den allerdings das Leben schrieb. „Wir haben es nicht gut gemacht“ hält Max Frisch in Montauk fest, jedenfalls nicht – miteinander. Beider Liebe, das zeigen diese dreihundert Korrespondenzstücke, war nicht lebbar. Aber Bachmann und Frisch haben - dank einer ungeheuerlichen Indiskretion - leidenschaftlich und auf den Punkt formuliert - große Literatur hinterlassen. Und wer schon das ein oder andere der Beiden gelesen hat, wird feststellen, wie das Leben in ihre Werke eingeflossen ist.
Dr. Helmut Schaaf für die ehrenamtliche Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen

 Buchtipp von Dr. Helmut Schaaf für den Förderverein Christine-Brückner-Bücherei

 

"Fast hell": Wende-Erzählung von Alexander Osang | NDR.de ...

 Alexander Osang
„Fast hell“
Aufbau Verlag, Berlin 2021,
237 Seiten, 22 Euro

Warum wurde nach dem Mauerfall 1989 eigentlich nur von den Ostdeutschen erwartet, sich westlichen Gepflogenheiten und Strukturen anzupassen und warum ist dieser Prozess – bis auf die Ampelmännchen - so gut wie nie in die andere Richtung verlaufen? Man könnte es ganz einfach beantworten mit: So sind eben die Machtverhältnisse. Das eine Wirtschaftssystem siegt über das andere und bringt damit auch seine Regeln mit. Dann wäre das Buch von Alexander Osang, einem der spannendsten ostdeutsch aufgewachsenen Autoren, aber kein Roman geworden. Das ist er aber, und darin spielen er und ein „Uwe“ aus Ostberlin die Hauptrollen.

Alexander Osang fühlt sich in dem neuen Deutschland wie in einem „30 Jahre währenden Resozialisierungsprogramm.“ und schreibt: „Meine Fremdheit hat weniger mit meiner Zeit im Osten zu tun als mit der Zeit danach“.  „Uwe“ zieht seit Jahrzehnten heimatlos durch die Welt, weil ihm sein Land mit der DDR abhandengekommen ist. Diesen „Uwe“ und dessen verbitterte Mutter nimmt Osang als Kontrapunkt mit auf eine Schiffsreise von Helsinki nach Sankt Petersburg und zurück. Reisen und reden und darüber schreiben – das ist der Plan. Dabei sind zumindest die weißen Nächte über der Ostsee „fast hell“, aber trügerisch, so wie das Bild der Nachwendejahre. Uwe, der Berliner, der ein Haus in New York besitzt, in Russland studiert, in China und in Hongkong gelebt hat und dessen ostdeutsche Familie nach rechts abrutscht, bildet die Folie, auf der sich Osang spiegelt. In einer klugen Mischung aus Lakonie und Ironie schildert er seinen Aufbruch, seine Krisen, die Frauen, die Kinder, seine Jobs, die Zeiten des Umbruchs und wie sich das Leben in der Erinnerung zu einer Erzählung verdichtet, bei der die Wahrheit vielleicht die geringste Rolle spielt. In der Gegenüberstellung spiegelt Osang die Gefühle so vieler Ostdeutscher wider, so etwa das Getrieben Sein, ohne zu wissen, wohin, die Suche nach einer besseren Welt hinter der Mauer, das Gefühl, etwas nachholen zu müssen, oder froh zu sein, etwas hinter sich zu haben, und es gleichzeitig zu vermissen.

Das alles liest sich ungemein flüssig. Wer nicht das erste Buch von Osang in die Hand nimmt, wird darin den „Ich-empirischen Osang-Sound“ wiedererkennen, den der 1962 in Berlin geborene Journalist und Autor in drei Jahrzehnten perfektioniert hat. Im „Hallo“ besprochen wurde z.B. die „wundersame Fragen der Leitkultur: Darf man um seine Katze trauern, wenn Deutschland gerade Weltmeister wird? Osang hat die Gabe, die Linien zu verweben und seine Figuren leuchten zu lassen -  auch sich selbst. Vergleichbar dem Kreuzfahrtschiff, auf dem sie reisen, steuert die Uwe/Alexander-Story auf ein wuchtiges Finale zu.

Buchtipp von Dr. Helmut Schaaf für den Förderverein der Bücherei

 

Gerd Nickoleit |und Katharina Nickoleit

Fair for Future.

Ein gerechter Handel ist möglich

Ch. Links Verlag (2021)
224 S., 42 Abb.,
ISBN: 978-3-96289-113-8

Nach „Fridays for future“ nun auch “fair for future? Springt da jemand auf einen Zug auf oder spinnen da zwei etwas weiter, was nur zu logisch folgt, wenn man für das Klima in der Welt nicht nur die Temperatur und das CO2 anschaut. Fakt ist, dass die Bemühungen um einen fairen Handel schon lange vor den „Fridays for Future“ begannen – aber wie diese noch lange nicht ausreichend umgesetzt werden konnten.
Begonnen hat der Versuch eines fairen Handelns aus einem eher karitativen Engagement in den 1970er Jahren, das aber kein Almosen sein sollte. Das wurde zunächst meist mitleidig belächelt. Inzwischen gibt es auch für dieses Marktsegment so viele Versuche der Vereinnahmung, dass man schon wieder skeptisch sein darf und es etwa für „el Rojito“ gute Gründe gibt, ihren fair gehandelten Kaffee nicht „Fair Trade“ zu besiegeln. So gehören zum Fairen Handel außer einer „gerechten, weil angemessenen Bezahlung“ und fairen Geschäftsbeziehungen (etwa, dass Verträge auch eingehalten werden, wenn die Ware geliefert wurde)
•    die Chancengleichheit auch für etwa infrastrukturell benachteiligte Gruppen
•    die Eindämmung von Kinderarbeit
•    der Schutz und die Förderung der kulturellen Identität und traditionellen Fähigkeiten von Kleinproduzentinnen, die sie in ihren Handwerksdesigns, Lebensmittelprodukten und damit verbundenen Leistungen zum Ausdruck bringen
•    und nicht zuletzt der Schutz der Umwelt.
Wenn es aber selbst Tchibo schaffen kann, ein fair trade Siegel zu bekommen, muss etwas schief sein.
Wie es soweit kommen konnte, erzählt ein Mann der ersten Stunde. Gerd Nickoleit hat die Aktion „Jute statt Plastik“ gestartet, die den Fairen Handel auch über die Szene hinaus bekannt gemacht hat. Er wurde der erste Hauptamtliche des Fairen Handels in Deutschland und hat u.a. das Fair-Handels-Haus GEPA und das Forum Fairer Handel mitgegründet. Dass seine Tochter trotz einer konsequenten Erziehung zum nachhaltigen Handeln dabeigeblieben ist, darf man wohl auch seinem vorgelebten Engagement zuschreiben. Während die anderen bunte Turnbeutel mit in die Schule nahmen, musste für sie eine Jutetasche reichen. Beim Weihnachtswichteln schämte sie sich, dass sie statt „cooler Sachen“ Batik aus Indien weitergeben sollte. Da tröstete es auch wenig, wenn sie – zu Recht – als avantgardistisch gelobt wurde. Jetzt hat sie, die freie Journalistin, die auch schon im gleichen Verlag ein Buch über Bolivien verfasst hat, mit ihrem Vater dieses kleine Geschichtsbuch geschrieben. Die rote Linie ist ein historischer Abriss von der Entwicklung aus dem non-profit Sektor bis hin zu einem Marktsegment, das um die 3% des Wohlstandshandels ausmacht. So wird durch den fairen Handel überwiegend das "ethische Marktsegment" für Menschen bedient, denen es aus politisch-ethisch-moralischen Gründen wichtig ist, für bessere Arbeitsbedingungen und ökologisch schonendes Produzieren auch mehr zu bezahlen – auch weil sie es sich leisten können. Nur kommt der größte Teil des Gewinns immer noch nicht bei den Produzentinnen an, was auch, aber nicht nur mit der Lieferkette zu tun hat.
So gibt es neben dem berechtigten Stolz, etwas angestoßen, entwickelt, und zäh mit allem Vor- und Zurück nach vorne gebracht zu haben auch vieles zu kritisieren und zu hinterfragen, was die beiden auch ansprechen.
Was das Buch – zumindest für Ältere wie mich – spannend und lebendig werden lässt, sind die eingestreuten Anekdoten die an Zeiten mit viel power, Lachen, aber auch mit Wehmut erinnern. Dazu zählen Endlos-Sitzungen im heimischen Wohnzimmer bei (damals!) teilweise kaum trinkbarem Nicaragua Kaffee, der nur noch mit größter Solidarität nachgekauft wurde. Zu den „Mühen der Ebene“ gehörte aber auch der teilweise erst zu erlernende Umgang mit den Interessen verschiedener Produzentengruppen, was u.a. auch zu einem deutlich verbesserten Kaffeegenuss geführt hat. Der war auch nötig, um sich danach mit den Versuchungen der zunehmenden Vereinnahmung bis zum bloßen Etikettenschwindel auseinandersetzen zu können. Das könnte nun auch für die heutigen „Fridays for Future“ interessant sein, denn dieser Prozess von der Ablehnung über die politische Bekämpfung bis hin zur sinnentleerenden Umarmung ist beispielhaft auch für viele andere Projekte. Auch das ist Thema des Buches.
Zu Recht konstatieren die Beiden, dass der Faire Handel schon vieles richtig macht. Das ist nachvollziehbar und auch wegen der vielen Anekdoten gut lesbar in seinem aneckenden Verlauf beschrieben. Am Ende des Buches steht die Hoffnung, dass es jetzt aber eigentlich erst – auf einem anderen Niveau – richtig los, also weiter gehen soll.
H Schaaf

Von zerbrochenen Illusionen


Amy Waldman: 

Das ferne Feuer. Roman.

Verlag Schöffling 2021. 496 S., geb., 26.– €

In ihrer Neujahrspredigt zum 1. Januar 2010 hatte die evangelische Bischöfin Margot Käßmann gesagt: „Nichts ist gut in Afghanistan“ und damit ausgedrückt, dass der reflexhafte Einsatz militärischer Mittel niemand wirklich nutzt und man „mit Waffen keinen Frieden schaffen kann“. Vielleicht aber, so scheint es der Studentin der medizinischen Anthropologie Parvin Schams, geht aber doch etwas, speziell für die Frauen in dem von den Taliban beherrschten Land. Sie hat von dem humanitären Engagement eines amerikanischen Arztes gelesen und ist so begeistert, dass sie für seine Stiftung vor Ort arbeiten will. Dabei möchte sie auch das Land erkunden, aus dem ihre Eltern geflohen sind. Ihre Mutter ist, als die Geschichte einsetzt, unlängst verstorben und der Vater wenig angetan, als ihm seine Tochter eröffnet, sie wolle für mehrere Monate nach Afghanistan reisen, um den Fortschritt in der Bekämpfung der Müttersterblichkeit zu dokumentieren. Dort angekommen sieht sie sich zurückgeworfen auf einfachste Lebensverhältnisse, was sie zunächst als Wiederentdeckung der „Kraft ihrer fünf Sinne und der Stille“ sowie der Abwesenheit von „Berieselung mit Neuigkeiten aus dem Leben anderer“, Multitasking und Internet empfindet. Stattdessen taucht die unverschleierte Kalifornierin in den zehrenden Alltag der Muslimas ein. Es kommt zu Eifersüchteleien und Streitereien, aber auch zu Zuneigung und Fürsorge. Je mehr sie dabei erfährt, desto klarer wird, dass so ziemlich alles, was sie von dem Projekt gelesen hat, falsch bis frei erfunden ist. Die Klinik, ein strahlend weißer Bau am Ortsrand steht leer, einmal die Woche nimmt eine Ärztin aus der nächsten Stadt den beschwerlichen mehrstündigen Weg in die Berge auf sich, um Visite anzubieten – männliche Ärzte aufzusuchen ist den Frauen verboten. Als dann auch noch amerikanische Soldaten auftauchen und verkünden, der Präsident der Vereinigten Staaten habe beschlossen, aus der beinahe unpassierbaren Schotterpiste eine Straße zu machen, erlebt Parvin den Zusammenprall zweier Welten hautnah. Der Straßenbau wird Ziel von Sabotageakten, und je länger sich die Geschichte hinzieht, desto klarer wird Parvin, dass sie ein störendes Element in der Dorfgemeinschaft ist.

Nach ihrem Romandebüt „Der amerikanische Architekt“, in dem Waldmann durchspielte, gegen welchen Generalverdacht Muslime in Amerika nach dem 11. September 2001 zu kämpfen hatten, widmet sie sich in diesem Roman abermals den Folgen jenes Terroranschlags. Mitreißend geschrieben, mit klarem Blick, und ohne dabei zynisch zu werden, erzählt Waldman von persönlicher Motivation, naiver Gutgläubigkeit und moralischer Verwirrung – und den Konsequenzen für die davon Betroffenen. Dabei legt sie beharrlich Schicht um Schicht kulturelle Prägungen frei, und lotet aus, welche Folgen es haben kann, wenn von außen mit aller Gewalt gesellschaftliche Verhältnisse gebrochen werden sollen.

Dr. H. Schaaf

Buchtipp von Dr. Helmut Schaaf

Christoph Peters

Dorfroman

Luchterhand Verlag,

München 2020, 416 Seiten, 22,- €.

Dieser Roman hat alles, was eine gute Geschichte braucht: Herz, Schmerz, Illusionen, Schmetterlinge und Menschen im Kampf um eine bessere Zukunft. Das Dorf, um das es geht, liegt am Niederrhein, umgeben von viel Land mit viel Platz am nahen Rhein – ideal für einen „schnellen Brüter“.

Zu jenem Zeitpunkt, an dem der Roman einsetzt, befindet sich das Dorf als Brennpunkt gesellschaftlicher Konflikte und Veränderungen im Übergang vom Verharren dörflicher Strukturen, in denen Macht- und Besitzverhältnisse klar aufgeteilt sind, und der Hoffnung auf eine Modernisierung der Lebensverhältnisse. Diese sollten mit dem Bau eines „schnellen Brüters“ kommen, das aber spaltete buchstäblich die Republik und auch das Dorf selbst, zerstörte Freundschaften und Geschäftsbeziehungen.

Der Roman eröffnet mit einer Heimkehr: Ein Mann fährt „nach Hause“ das Dorf, in dem er aufgewachsen ist und in dem seine mittlerweile über 80-jährigen Eltern noch leben. Er betrachtet die Landschaft, registriert die verfallenen Industriehallen, die neu gebauten Umgehungsstraßen und den bunt angemalten Kühlturm des Schnellen Brüters, der bereits vor Jahren in einen Freizeitpark umgewandelt wurde. Wie eine Folie legt sich die Erinnerung auf die Gegenwart.

Eine andere Erzählebene spielt im Grundschulalter des Erzählers, in dem dieser alles, was um ihn herum geschieht, genau beobachtet, doch nahezu unhinterfragt wiedergibt.

Das Land, auf dem der Schnelle Brüter gebaut werden soll, gehört zu großen Teilen der Kirche. Der Vater plädiert als Mitglied des Kirchenvorstandes für den Verkauf. Mit Sinn für Komik schildert Peters die Zerwürfnisse und Frontlinien, die im Dorf verlaufen: Wer spricht mit wem? Wer geht in welche Kneipe? Wessen Kinder pflegen Freundschaften?

Die nächste Erzählebene, rund zehn Jahre später angesiedelt, ist die Geschichte einer Emanzipation: Der pubertierende, fünfzehnjährige Ich-Erzähler, ein schlauer, schweigsamer, in seine Herkunft eingesponnener Junge, der Schmetterlinge fängt und katalogisiert, begegnet eines Tages der sieben Jahre älteren Juliane. Sie hat sich der Protestbewegung gegen das Atomkraftwerk angeschlossen und lebt in der Scheunenkommune auf dem Gelände des legendären Bauern und Protestanführers Maas. Juliane ist es, die in Peters" Protagonisten endgültig einen Bewusstseinswandel auslöst, zum Leidwesen seiner Eltern.

Auf jeder dieser Erzählebenen zeigt sich die schriftstellerische Fertigkeit dieses Autors: So schwärmerisch und zugleich genau, so pathetisch angehaucht und doch völlig unpeinlich kann er über das Erwachen, die Nöte, die Zweifel und die erfüllten Augenblicke einer ersten jugendlichen Liebe schreiben.

Der Schnelle Brüter wurde nach seiner Fertigstellung nie in Betrieb genommen. Der Preis, den das Dorf für seinen Glauben an die Heilsversprechen der Atomenergie gezahlt hat, ist hoch und bleibt auch an dem Ich-Erzähler hängen. So bleibt ihm die Frage, welche Verantwortung man trägt und ob man dazu berechtigt und vor allem fähig ist, sich von ihr zu lösen. Wie Christoph Peters auch existenziellen Fragen an die Welt in diesem Roman von höchster Unterhaltsamkeit anbietet, macht das Lesen zu einem nachhaltigen Vergnügen.

Wolfgang Büscher                    

Heimkehr

Rowohlt Berlin; 202 S. ISBN-10: 3737100896

Wolfgang Büscher kam 1951 im Stadtkrankenhaus von Arolsen zur Welt, wuchs in Volksmarsen auf, studierte Politikwissenschaft und brach dann immer wieder in die Welt auf. Bundesweit bekannt geworden ist er durch gut recherchierte und historisch geprägte Berichte von Reisen zu Fuß von Berlin bis Moskau, mitten durch Amerika und durch und um Deutschland. Jetzt ist er „heimgekehrt“, ins Waldeck´sche, genauer gesagt in den Forst, dort, wo man „zwei Fußstunden von Arolsen entfernt“ auf den Bonifatiusweg trifft. Anders als seine Reiseberichte zu ferneren Zielen, bei denen man sich selbst trotzdem immer mitnimmt, ging er diesmal – bewusst oder nicht – auf eine Reise zu sich selbst. Dazu zog er in den Wald und richtete sich in einer Jagdhütte, die ihm der Fürst überlassen hatte, auf eine stille Zeit ohne Strom und fließendes Wasser ein. Die Zeit verging mit Holzhacken und Feuermachen, ab und zu einer Jagd, Wanderungen und einem Schützenfest sowie Begegnungen mit besonderen Menschen im Wald. Das Frühjahr, der Sommer und der Herbst wurden ungeahnt dramatisch, Sturm, Hitze und Käferplage brachten fast den halben Wald um. Dazwischen blieb viel Zeit Einkehr- und Einsamkeit und eine Schwärze der Nächte, die in Städten unbekannt ist. Die Mutter stirbt im Sommer und hinterlässt ein Haus voller Erinnerungen aus den frühen sechziger Jahren.

„Wir lagen im Krieg mit dem Förster, wir bauten uns Hütten in seinem Revier, er entdeckte sie und befahl seinen Waldarbeitern, sie einzureißen. Meist trieben wir uns im Zigeunerwäldchen herum, schon des Namens wegen.

Gern hätten wir die schaurige Geschichte gehört, die sich dort gewiss zugetragen hatte, aber es gab keine, kein Lebender konnte sich daran erinnern, wahrscheinlich hieß der Kiefernwald so, weil hier irgendwann eine fahrende Sippe gelagert hatte. Nicht vor der Dämmerung kehrten wir heim, spürten nun erst, wie hungrig wir waren, und machten uns über das Abendbrot her, das schon gewartet hatte. Fragte jemand, was wir getrieben hätten den ganzen Tag, sagten wir, nichts Besonderes.

Wir verschwendeten die Zeit, die sich an uns verschwendete, und sie gab generös. Langeweile war das Fluidum, die Nährlösung, in der wir lebten. Es dehnten sich die Tage, die Nachmittage, die Sonntage zur langen Weile, es dehnten sich die Sommer, die Winter. Wenn das Fernsehen zeigte, wie weiter südlich schon die Kirschen und Magnolien blühten, schlurfte bei uns noch der Alte über die hartgefrorenen Äcker, der Frost. Kann ich begreiflich machen, dass es kein schlechtes Leben war?

Ich ahnte, dies hier würde enden, etwas wartete am Horizont meiner stillen Welt, dort ging es schneller zu, lauter, eines Tages würde ich dort sein, und natürlich pochte das Herz, dachte ich daran.“

Nach den bundesweit viel beachteten Reiseberichten aus der weiten Welt hat W. Büscher also nun ein Waldeck-Buch geschrieben. So darf man das sehen und als Waldecker auch lesen und eigene Spuren in diesem Fleckchen Erde suchen. Es ist aber – über Waldeck (den Landkreis) hinaus auch eine „Heimkehr“, die existenzieller als erwartet ausfällt.

 

Buchtipp von Dr. Helmut Schaaf

  

Helena Adler
Die Infantin trägt den Scheitel links. Roman. 

Jung & Jung, Salzburg 2020. 188 Seiten, 20 Euro.

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen,
dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“ (Nietzsche)

Im letzten „Hallo“ galt es, den Waldeck „Heimat“ Roman von W. Büscher vorzustellen, in diesem Anti-Heimatroman wird es finster. „Wir essen schwarze Regensuppe zum Nachtmahl. Der grüne Kachelofen brütet in der Ecke, in der Stube dampft es, doch mir ist kalt.“ – so legt die Autorin los. Den nachfolgenden 20 Kapiteln stellt sie ein Motto voran, das Bezug nimmt auf Werke der Weltliteratur und hinunterführt in die Tiefe eines österreichischen Dorfes. Szenisch nimmt sie dabei Bezug auf nicht weniger finstere Gemälde bspw. von Bosch, Tizian Bruegel d. Ä. oder Francisco Goya. Überzeichnungen, Übertreibungen und die groteske Zuspitzung von Bauernhof-Klischees sind die Stilmittel. So darf die Heldin mit ihren Einsamkeits- und Fremdheitsgefühlen zwischen Stalldunst, Schweineblut und Weihrauchduft hemmungslos kokettieren. Dabei gehen Zorn und Komik eine so innige Verbindung ein, dass man das Ganze ebenso gut für eine satirische Erfindung halten könnte, wenn die Autorin nicht eine Menge von dem selbst erlebt hätte oder haben könnte.

So schildert sie die Urgroßeltern, Eltern und ihre beiden bösartigen Schwestern, versammelt bei einem von Gewittern begleiteten Abendgebet wie folgt: „… als ich mit meinen Kinderaugen wieder aufblicke, fotografiert der Blitz von draußen herein. Ein Bild mit Dämonen und Zyklopen, Vogelscheuchen, Menschenfressern und anderen gemeinen Teufeln. Das Beten wird zu einem Exorzismus, den sie an sich selbst exerzieren. Das flackernde Licht verformt ihre Gesichter und malt ihnen Falten und Runzeln aus vorgeschichtlicher Zeit auf die Stirnen. Niemals ist das meine Familie, ich bin allein auf meinem Heimatplaneten.“

Die Urgroßeltern, deren Haus und Hof alle gemeinsam bewohnen, werden als Charakterköpfe mit „verbügelten Gesichtern“ und „noch nicht ganz abgestorbene Seelen“ charakterisiert. „Sie sind bodenständig geblieben, damit wir abheben konnten, der Vater in die Esoterik, die Mutter mit den Engeln, die Schwestern mit ihren Schlittschuhen und ich mit dem Verstand.“ …  
Sie choreografieren mein Leben, sodass ich mich sicher fühle, dass es richtig ist, wie ich meinen Malzkaffee trinke, dass ich den Kindergarten verweigere oder im Deutschaufsatz unser Haus mit einem Schiff vergleiche, dessen Segel aus den alten Unterhosen des Vaters besteht. Sie bremsen mich zu völliger Ruhe und bewegen mich zum Aufruhr.“

So kommt es, dass die Infantin halb unachtsam, halb mutwillig den Hof abfackelt, was von den Eltern, auch versicherungstechnisch bedingt, mit Fassung aufgenommen wird, aber vier Jahre äußerst beengten Wohnens nach sich zieht, Flöhe und Wanzen inbegriffen. Es endet mit der Vertreibung aus dem teuflischen Paradies, einem Krieg zwischen den Eltern, Knast für den Vater, dem Verlust des wiedererbauten Hofs und dem Wunder einer ungeplanten Mutterschaft, das die Infantin „erwachsen werden lässt“. Aber den Scheitel scheint die Autorin, die 1983 „in einem Opel Kadett“ zur Welt kam und später unter anderem Malerei am Mozarteum studierte, immer noch links zu tragen.

Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest.


Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag, München 2022. 695 Seiten, 30 Euro.

 

Orhan Pamuks neuer Roman "Die Nächte der Pest" erzählt von einem osmanischen Mikrokosmos im Mittelmeer, der sich um 1900 gegen eine Epidemie, religiösen Wahn, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Nationalismus behaupten muss. Dabei ähnelt vieles verblüffend den Nachrichten der Gegenwart.

Es war einmal …. eine Insel in der Ägäis von „beängstigender“ Schönheit, mit Häusern aus weißem Stein und grün überwachsenen Felsen. Die schöne Insel, die alle Ankommenden bei ihrem Anblick bezaubert, trägt den Namen Minger. Es gibt hier üppiges Grün, putzig rote Dächer und einen mächtigen weißen Burgfelsen. Pferdekutschen zuckeln übers Pflaster, die Menschen handeln, jeder in seinem Glauben, mit Rosenwasser, mit Düften, Salben und Pasten. Das erzählt uns eine osmanische Prinzessin, die dabei gewesen ist. Und wenn Sie nicht gestorben wären, könnte man denken, wäre es das Paradies auf Erden gewesen. Aber sie sind gestorben, und zwar schon lange, bevor Corona ein Dauerthema wurde. Die ansteckende Erkrankung war die Pest, die – tatsächlich – Ende des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert vor allem in Asien Millionen Todesopfer forderte.

Die Seuche durchdringt das Miteinander, legt menschliche Abgründe frei und vernichtet bislang liebgewonnene Gewissheiten mit zerstörerischer Kraft. Dabei sind natürlich „die Anderen“ Schuld, also für einen die Pilger aus Mekka, die den Erreger eingeschleppt haben sollen, für die anderen die Händler aus Alexandrien. Beim Leugnen der Krankheit, dem Ringen um Freiheit und Beschränkung, Wissenschaft, Vernunft und Verschwörungstheorien mischen mit: muslimische Scheichs und orthodoxe Priester, reiche Bürger und arme Schlucker, von westlichen Quarantänevorstellungen angetriebene Ärzte, korrupte, liebestolle Politiker, Spitzel und Spione und ein Nationalist namens Kommandant Kâmil. Als schließlich Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf sich allein gestellt. Die Blockade schützt aber auch die neuen Machthaber auf der Insel, die während der Seuche ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erklärt. Dass Kommandant Kâmil selbst früh von der Seuche dahingerafft wird, tut seinem Nachleben im neuen Staate keinen Abbruch.

Dieser aus der Katastrophe geborene Staat wirkt dann in vielem wie eine Miniatur der Republik Türkei, was dem türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk – schon wieder – eine Klage wegen Majestätsbeleidigung eingebracht hat. Tatsächlich wechseln sich in dieser epischen Erzählung Historisches und Fiktives übergangslos ab, so dass einem beim Lesen die Ebenen schon mal durcheinandergeraten können. Pamuk nimmt sich viel Zeit, um sich an einem Despoten abzuarbeiten, an Sultan Abdülhamit II., der in Reformen des Reichs einwilligt und die neue Verfassung rasch wieder kassiert. Der Alleinherrscher verfolgt seine Gegner mit Härte und nutzt den Islam als Machtmittel. Osmanisch nostalgisch wird es bei Pamuk nie.

Orhan Pamuk, der seine Heimat unendlich liebt und deshalb endlos mit ihr hadert, bringt das Kunststück fertig, sowohl ein Gruselmärchen als auch Geschichte geschrieben zu haben. Obwohl sein Thema todtraurig ist, ist es überraschend verspielt und gleichzeitig hochpolitisch – und lesenswert!

Dr. Helmut Schaaf für die notgeöffnete, ehrenamtliche Christine Brückner Bücherei Bad Arolsen

Buchtipps von Dr. Helmut Schaaf für den Förderverein Christine-Brückner-Bücherei e.V.

Jasmin Schreibers 

Marianengraben, Roman
Eichborn Verlag, Köln 2020 ISBN, 256 S., 20,00 EUR

Paula ist in ihrer Trauer um den Tod ihres kleinen Bruders. Tim ist ertrunken, im Urlaub mit den Eltern, und nun ist Paulas Seele abgesunken an die die tiefste Stelle im Meer, im Marianengraben, ganz unten „elftausend Meter tief“, im „ewigen Ozean mit leuchtenden Quallen und blinkenden Tintenfischen.“

Ihren Trauerzustand beschreibt sie als „ganz unten in der Dunkelheit, wo es kein Licht mehr gibt, keine Farben und kaum noch Sauerstoff“, ihre Depression mit „Ich war ein Menschenkostüm, das Nichts enthielt“ oder „wie ein alter Rechner, der nur noch Fehlermeldungen auswarf, die aber alle keinen Inhalt hatten“ und ihren Schmerz: „Er kennt immer erst mal nur Stärke, der Auslöser ist egal. Schmerz fährt hoch, bis er einhundert Prozent hat, und dann steht man da und muss das irgendwie überleben, egal, was der Auslöser ist. Weil der Hund stirbt. Weil der Freund Schluss macht. Weil der Vater sich nicht mehr meldet. Weil der Bruder stirbt.“

Da ist viel Anrührendes, was einen schon mal das Buch zur Seite legen lässt, weil man mit Tränen in den Augen nicht gut lesen kann. Gleichzeitig hält sie uns die ersten hundertfünfzig Seiten mit originellen Metaphern, komischen Situationen und verblüffenden Analogien bei Laune. So hat sie das Gefühl, dass ihr Therapeut ihr „nur eine kleine Schöpfkelle in die Hand gibt, mit der sie das schwarze Wasser ganz unten im Marianengraben alleine auslöffeln soll.“

Aber natürlich bleibt es nicht dabei, es geht aufwärts, wenn auch zunächst ziemlich schräg auf dem Friedhof, wo eben nicht nur der kleine Bruder liegt, sondern auch die Urne eines zunächst erschreckend schrulligen „Alten“, der seiner Frau den letzten Wunsch erfüllen will. Und wir ahnen es, sie kommen zusammen, mit all der Tragik und mehr oder weniger erwartenden Überraschungen und manches klingt jetzt wie in Kalendersprüchen und manches wie aus Tagebüchern zu Jugendzeiten

Aber: Sie verstehen sich, weil niemand sie versteht, und das hilft.

Während die 20-Jährige lange nur Zwiesprache mit ihrem toten Bruder hält, hat der Endsiebziger keinen Sinn für Sentimentalitäten, auch nicht für Paulas Tierrettungsideen und Selbstmordsehnsüchte. Dafür hat er eine schwache Blase, und wird gescholten, weil er beim Gang hinter den Busch Blumen umknickt und Käfer zertritt. Außerdem trägt er eine geheimnisvolle Kiste mit sich. Und obwohl in Marianengraben viel gestorben wird – Hunde, Hühner, Brüder, Schwestern, Ehepartner, Eltern, Omas – geht es letztlich aufwärts, ins Licht, an die Wasseroberfläche, zuletzt auf einen Berg. Da könnte man die Geschichte schon „konstruiert“ nennen.

Jasmin Schreiber ist Biologin, jung und ehrenamtlich Sterbebegleiterin. Sie kennt die Bilder, die Menschen schaffen, wenn die Realität unaussprechlich scheint.. Ihr Debütroman ist wohl kein literarisches Meisterwerk, aber es gelingt gewiss, die Schönheit der Tiefsee zu beschreiben und über weite Strecken, Schweres leicht und ebenso berührend zu erzählen.

Adriana Altaras

Die jüdische Souffleuse. Roman
Kiepenheuer & Witsch, 2018, 203 S. ISBN 978-3-462-05199-5,

Die auch aus dem Fernsehen bekannte Schauspielerin und freischaffende Theater- und Opernregisseurin Adriana Altaras verschlägt es für die Inszenierung der Mozart-Oper „die Entführung aus dem Serail“ in die Provinz. Schon die darauf ansetzende Schilderung der sehr „besonderen“ Welt der Oper und der daran Beteiligten ist allein lesenswert. Mit einer hinreißenden Tragikomik erzählt Altaras von den Absurditäten des Theateralltags und kommentiert die dabei auftauchender Konflikte mit viel Witz und Esprit. Doch das ist nur die Geschichte um die eigentliche Geschichte: diese ist sehr real und handelt von der vom Theater angestellten Souffleuse Sissele. Diese in Israel geborene Tochter eines Holocaust-Überlebenden ist schon lange und vergeblich auf der Suche nach Spuren ihres Vaters und ihrer Cousins, mit denen sie einen Teil ihrer Kindheit in Deutschland verbrachte. Schon bei der ersten Begegnung vermittelt Sissele der Regisseurin, dass sie und nur sie ihr bei der Suche helfen kann. Dabei dachte Altaras, dass sie ihre eigene Suche, wie in „Titos Brille“ geschildert, „abgeleistet“ habe. Das dann dennoch in Gang kommende ist wieder opernreif, aber real und todernst: In einem dramatischen Beziehungs-Zick-zack kommt es soweit, dass sich beide gemeinsam auf die Suche machen. Sie fahren dafür Stationen der Vernichtung jüdischen Lebens ab, um Hinweise auf die Überlebenden zu finden. Eine wichtige Zwischenstation ist das Arolser Tracing Center, ehemals „der Suchdienst“. Hier werden tatsächlich Dokumente gefunden, die etwas über den Vater und vieles über die deutsche Vergangenheit und dem Umgang mit den Überlebenden aussagt.

Die Suchbewegungen werden immer wieder in den Fortgang der Operninszenierung eingeschoben - und damit aushaltbar gemacht. Am Ende kommt es sogar noch zu einer unverhofften Familienzusammenführung zweier „Nachgeborener“ - und die Aufführung der Oper scheint auch gelungen zu sein. Ein scheinbar leichter quirliger Roman mit einem schwierigen Thema

 

 Anna Burns

Milchmann. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Topen 2020.. 452 S., gebunden mit Schutzumschlag.

ISBN: 978-3-608-50468-2

 

Die 18-jährige Hauptfigur bleibt ohne Namen. Sie wird nur in ihrer Funktion etwa als „Mittelschwester“, „Vielleicht-Freundin“ oder Tochter Nummer drei angesprochen. Im „irgendeiner“ nordirischen Hauptstadt der siebziger Jahre muss sie ihrer Not- und Glaubensgemeinschaft seltsam erscheinen. Sie liest beim Gehen, auch englische Literatur, besucht einen Französisch Kurs, schaut sich mit ihrem „Vielleicht Freund“ die untergehende Sonne an und entdeckt mehr Farben als Hell und Dunkel am Himmel. Vor allem aber glaubt sie, durch eine sprachlose Insichgekehrtheit von der Gemeinschaft derer, denen seit 600 Jahren von den englischen Eroberer-Unrecht angetan wird, in Ruhe gelassen zu werden.

Dann wird sie in ihrem Stadtteil von einem hohen Paramilitär diesseits der Straße auserwählt. Er spricht sie aus seinem Lieferwagen an, scheint alle ihre Wege und Aktivitäten auch durch die verminten Gebiete zu kennen, und wartet - ohne körperlich übergriffig zu werden. Die Gemeinschaft diesseits „der Straße der Staatsmacht“ ist sich sicher, dass sie die neue Affäre von Milchmann ist, die Kameras und Informanten jenseits der Straße auch. Das führt dazu, dass sie diesseits der Straße umsonst Pommes bekommt, aber auch, dass das Leben ihres Noch- „Vielleicht Freunds“ in Gefahr ist, weil auch schon mal jemand aus anderen als politischen Gründen Opfer einer Autobombe werden kann.

Intensiv, packend und zwischen Witz und Verzweiflung führt Burns, durch ein Milieu, das im permanenten Ausnahmezustand lebt - und in der ständigen Furcht, es sich mit den Kämpfern zu verscherzen oder für sich auf ein Glück zu hoffen, das doch zerstört werden würde.

Es ist kaum vorstellbar, dass der Roman gut ausgeht oder gar ein Hoffnungsschimmer auf ein Überwinden der festgefahrenen Feindschaft möglich ist. Er geht aber besser aus, als zu befürchten war, wenn auch auf eine ebenso überraschende wie der Lage geschuldeten „besonderen“ Weise.

Besonders ist das Buch, dass von Anna-Nina Kroll wirkungsvoll ins Deutsche übertragen wurde, aber auch wegen der Allgemeingültigkeit der Geschichte. Diese hätte im Nordirland der siebziger Jahre spielen können, aber wohl auch überall dort, wo ein übermächtig erscheinender Feind eine Notgemeinschaft zusammenpfercht, auch wenn der Konflikt längst über die dritte Generation hinausgeht und ihre meist ermordeten Helden durch weniger edle Nachfolger im Machtgefüge ersetzt wurden.

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