Aktuelle Leseempfehlungen

Sachbuch

Krüger, Michael: "Verabredung mit Dichtern"

Ein für alle Literaturliebhaber sehr zu empfehlendes Buch. Ich kann mich der hier zitierten Empfehlung nur anschließen und muss nichts hinzufügen: "... anläßlich seines 80. Geburtstages beschenkt uns die Verlegerlegende Michael Krüger mit seinem wunderbar leicht und humorvoll erzählten Blick in sein Leben, die Freundschaften, das Lesen und sein Schreiben. Das Leben - ein Fest! Wir bekommen eine Geistesgeschichte der (europäischen) Literaturlandschaft, die keinesfalls exemplarisch ist, folgen atemlos seinen amüsanten, klugen und liebevollen Schnurren von Canetti und Magris, bedauern, Fritz Arnold nicht gekannt zu haben und Inge Feltrinelli nie begegnet zu sein. Und staunen vor allem mit ihm, wie viel Glück er in seinem Leben hatte. Wer klug ist, besucht eine seiner derzeit stattfindenden Lesungen und darf zuschauen, wie er das Publikum um den Finger wickelt und hat dann zumindest ihn nicht verpasst."

  

Annie Proulx:   Moorland

Annie Proulx, 1935 in USA geboren, ist eine kanadisch-US-amerikanische Schriftstellerin, Pulitzer-Preisträgerin und eine passionierte Umweltaktivistin. Zu ihren Werken ghören "Postkarten", "Schiffsmeldungen" und die Kurzgeschichte "Brokeback Mountain"; die beiden letzten wurden auch erfolgreich verfilmt.

Annie Proulxs neuestes Buch ist ein Sachbuch besonderer Art. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rettung unserer Moorlandschaften, diesem einzigartigen Ökosystem, einer höchst gefährdeten Landschaft. Es ist ihr Anliegen, mit diesem Buch die wissenschaftlich-abstrakten Abhandlungen über das brisante Thema etwas verständlicher zu vermitteln. Proulx erzählt von der Magie und Schönheit der Moorlandschaften und nimmt uns mit auf beeindruckende Reisen weltweit: zu dem berühmten "Great Dismal Swamp" in Virginia/North Carolina, USA. Zu den endlos weiten Feuchtgebieten der kanadischen Hudson Bay, zum schwarzen Wasser der sibirischen Wassjuganie, zu Torfmooren Englands, zum Gran Pantanal in Südamerika, einem der noch vogelreichsten Gebiete der Erde.  

Das Buch ist ein Werk, das die komplexen Zusammenhänge dieses Ökosystems erläutert. Es greift weit zurück in historische Zeiten wie zur Schlacht vom Teutoburger Wald, siegreichen Germanen und ihrem "heiligen Großen Moor". Es erzählt von geologischen Veränderungen wie dem Ärmelkanal und dem darunter liegendem Doggerland, einer Moorlandschaft von vor tausenden von Jahren, das jetzt noch wissenschaftlichen Erkenntnissen dient.  Proulx unterstreicht auch, wie überlebenswendig Feuchtgebiete nicht nur für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, sondern für die Menschheit sind. Und wie schwierig - ja fast unmöglich - es ist, sie wieder herzustellen, nach Zerstörung, durch Raubbau wie Entwässerung, Trockenlegung von Flächen für Ackerland, Dorf- und Städtebau, Torfabbau.

Nur zwei exemplarische wissenschaftliche Erkenntnisse als Beispiel, was zerstört wird: 1. in einer Torfmoospflanze seien mehr als dreißigtausend winzige Tierchen, mikroskopisch kleine Organismen, zu finden. 2. Ein Torfmoosexperte zählte auf einem Quadratmeter hügeligem Moor nicht weniger als fünfzigtausend Pflanzen (Irish Peatland Conservation Council). Eine Erdbaumaschine kann dies alles in Sekunden zerstören. Eine nicht enden wollende Aufzählung von Zerstörung und Vergiftung dieser Naturlandschaft hinterlässt große Nachdenklichkeit, Verstörtheit und gleichzeitig einen Aufruf, eben ein Plädoyer, beizutragen, dieser wertvollen Landschaft wieder Anerkennung und Raum zu geben und  den Lebensraum vielzähliger Tiere und Pflanzen zu retten und zu erhalten

 

Uwe Neumahr "Das Schloss der Schriftsteller" - Nürnberg '46, Treffen am Abgrund 

"Dem Autor ist ein bemerkenswertes Werk gelungen, sehr anschaulich und lebendig geschrieben, ohne je trotz der Fülle von Anekdoten und all der schillernden Persönlichkeiten sein eigentliches Thema aus dem Fokus zu verlieren, eben die Verfahren vor dem Aliierten Militärtribunal." Joachim Käpper am 7. März 2023 in der Süddeutschen Zeitung

Bei dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vom November 1945 bis Oktober 1946 wurden erstmals in der Geschichte politisch und militarisch Verantwortliche eines verbrecherischen Regimes zur Rechenschaft gezogen. Die zahlreich angereisten Korrespondenten aus aller Welt wurden im beschlagnahmten Schoss des Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell untergebracht, die Journalisten in einer Villa im Schlosspark: 250 Journalisten und Rundfunkberichterstatter, Fotografen und Filmoperateure aus den USA (100), Großbrittanien (50), Frankreich (40-50), Russland (25-30), aber auch der chinesische Kriegsberichterstatter Xiao Quian. 

Uwe Neumahr berichtet über die Haltung der NS-Elite vor Gericht (unabhängige Berichterstatter waren sie nicht gewöhnt - und dann auch noch so viele weibliche...), die Stimmung und die Reaktionen des internationalen Pressecorps (Kommentar zu dem Schloss: "German Schrecklichkeit") und man erfährt viele Details über die berühmten Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter den Berichterstattern und deren Beziehungen und Einstellungen - noch nie (und bis heute nicht) waren so viele prominente Schriftsteller unter einem Dach versammelt, u.a. Erika Mann, Martha Gellhorn und Rebecca West, Erich Kästner und John dos Passos, Alfred Döblin und Elsa Triolet (Partnerin von Louis Aragon). 

Der Autor widmet jeweils ein Kapitel einem großen Namen, neben den Genannten auch Golo Mann, der aber wahrscheinlich nicht im Schloss nächtigte, und Wolfgang Hildesheimer, damals noch unbekannt in der LIteraturszene, der als Dolmetscherbei den Prozessen arbeitete. Und auf rund 20 Seiten geht es um Willy Brandt, Korrespondent für eine Osloer Zeitung und andere skandinavische Gewerkschaftsmedien (damals norwegischer Staatsbürger), der im Pressecamp u.a. auf Markus Wolf traf, der den späteren Bundeskanzler als Chef des DDR-Auslandsnachrichtendienstes über den Kanzleramtsspion Günter Guillaume stürzte. 

Ich habe das Buch mit großem Interesse gelesen und kann es allen zeitgeschichtlich und literarisch Interessierten sehr empfehlen. Es liest sich flott und, wie ich finde, teilweise regelrecht spannend. 

Dr. Uwe Neumahr, Romanist und Germanist, arbeitet als Literaturagent und freier Autor in München. 

Gina Ahrend 

Romane

Iris Wolff:   Lichtungen

Iris Wolff ist 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, Rumänien geboren. 1985 wanderte sie mit ihrer Familie nach Deutschland aus und lebt heute in Freiburg im Breisgau. Seit 2018 ist sie als freie Schriftstellerin tätig. In ihrem Roman "Lichtungen" erzählt Iris Wolff die Geschichte zweier Menschen, Lev und Kato. Beide wachsen sie in einem Dorf in Siebenbürgen, im Norden von Rumänien auf. Sie kennen sich seit Kindertagen. Als Lev wegen einer Lähmung seiner Beine bettlägerig wird, wird Kato beauftragt, ihm die Hausaufgaben zu bringen und ihm beim Lernen des Schulstoffs zu helfen. Eines Tages kann Lev auch wieder aufstehen und gehen. Doch sie bleiben seit dieser Zeit in einer tiefen Freundschaft verbunden. Der Roman wird aus dem Blickwinkel von Lev erzählt, einem ruhigen und in sich gekehrten jungen Mannes und zwar rückblickend. Mit jedem Kapitel geht die Geschichte um ein paar Jahre zurück, bis wir im letzten Kapiel bei Levs Kindheit ankommen. Uns wird ein Blick auf die Landschaft Siebenbürgens gewährt, auf ihre Bewohner, auf die Härte des Lebens in einer Diktatur, auf die überall herrrschende Armut und auf die Kraft und Stärke der Menschen dort. Siebenbürgen, Banat, das bis 1919 zu Österreich-Ungarn gehörte, dann zum Königreich Rumänien, Jahre später wieder zu Ungarn, zuletzt wieder zu Rumänien wurde. Nach dem Ende des kommunistischen Regimes verlässt Kato die Heimat geht in den Westen. Lev bleibt zurück. Erst Jahre später wird er seine Jugendfreundin wiedersehen. Er reist zu ihr in den Westen, nach Zürich, hier beginnt der Roman. Trotzt ihrer unterschiedlichen Lebenswege bleibt ihre Verbundenheit ungebrochen. War und ist es auch mehr? Es gibt Andeutungen. Vor allem ist es aber das Porträt einer berührenden Zweisamkeit. Geschrieben in einer wundersamen, feinfühligen, poetischen Sprache, in starken und zarten Bildern.

 

Eva Lohmann:  Das leise Platzen unserer Träume

Die Geschichte zweier Frauen: Hellen und Jule. Sie wird wechselnd erzählt – Hellen richtet das Wort an Jule, ohne sie tatsächlich anzusprechen, Jules Part wird erzählt.

Hellen ist die Äffäre von Jules Mann David. Sie weiß über Jule Bescheid und wundert sich, dass die beiden es noch miteinander aushalten können. Sie beobachtet und kommentiert die Ehe der beiden.

Jule ist mit David aus der Stadt in ein altes Haus aufs Dorf gezogen, mit dem Lebenstraum von eigenen Kindern und vielen Freunden, die zu Besuch kommen. Noch ist sie dabei, von der „Stadt-Jule“ zur „Land-Jule“ zu wechseln und ihr Verhalten den Gepflogenheiten der Dorfbewohner anzunähern, auch wenn ihr manches im Dorf nicht ganz verständlich ist. Jule weiß nichts von Davids Affäre. Der arbeitet als Anästhesist in der Stadt. Jule kocht für Veranstaltungen in einem nahegelegenen Gutshof und kümmert sich um Haus und Garten. David und Jule leben nebeneinander her. Nachdem sie vergeblich versucht hatten, ein Kind zu bekommen ist ihr Eheleben eingeschlafen und sie funktionieren nur noch als Paar. Eine zugelaufene Katze wird zu Jules emotionalem Halt.                                                            

Jule und Hellen lernen sich kennen, als Hellen auf Jules Kleiderverkauf im Internet reagiert und einen Rock kauft. Sie verabreden sich im Café, Jule hat keine Ahnung, wer ihr da gegenübersitzt, beide sind sich sympathisch und ganz langsam bahnt sich eine Freundschaft an. Als Jule klar wird, dass ihre Träume endgültig geplatzt sind und sie sich von David trennt, nimmt sie ihr Leben selbst in die Hand.

Der Roman erzählt davon, Träume und Lebensentwürfe loszulassen, vom Umdenken und Neuerfinden. In beide Frauen kann man sich gut einfühlen und ihr Handeln verstehen. Sehr berührend und lebensnah.

P.Z.

 

Teresa Präauer:   Kochen im falschen Jahrhundert

Eine Essenseinladung am Abend: Die Gastgeberin, der Partner der Gastgeberin, die Ehefrau, der Mann der Ehefrau – sie sind gerade Eltern geworden - und der Schweizer Freund sind die Teilnehmenden – zunächst.

Die Gastgeberin hat gerade ihre neue Wohnung bezogen, Umzugskisten stehen noch herum, sie gibt sich eine gewisse Lässigkeit und Toleranz. Im Hintergrund läuft die playlist mit coolem Jazz, die Küche ist aufgeräumt, die geplante Quiche und den Salat wird sie zubereiten, sobald die Gäste da sind. Einige Flaschen des teuren Crémant stehen gut gekühlt bereit. Es soll ein zwangloser und harmonischer Abend unter Freunden werden, auf dem Niveau der gebildeten, nicht mehr ganz jungen erfolgreichen Elite, die sich das Wohnen in den Randbezirken der Stadt leisten kann und einen gehobenen Lebensstil pflegt. (Die Stadt ist nicht näher bezeichnet, auch haben die Protagonisten keine Namen)

Die Gastgeberin hat in den einschlägigen Lifestyleratgebern gelesen, wie so ein Abend ablaufen sollte.

Der Schweizer Freund kommt als Erster. Er lässt die nassen Schuhe an, und stürzt sich sofort auf die bereitgestellten Nüsse und Cracker. Die Gastgeberin gibt sich tolerant. Die erste Flasche Crèmant wird geöffnet und während man auf das verspätete Ehepaar wartet auch geleert. Das Ehepaar kommt, man öffnet eine weitere Flasche Crémant, plaudert und lobt die Designermöbel der Gastgeberin. Den großen Esstisch hat sie sich extra anfertigen lassen mit der Vision auf ein offenes Haus und zukünftige Einladungen. Man gibt sich bemüht locker, die Gespräche sind nichtssagend, verraten die Spießigkeit hinter der hippen Fassade. So verläuft der Abend zunächst gepflegt und harmonisch, bis ein amerikanisches Paar an der Tür steht. Das Ehepaar hatte die beiden in einer Bar kennengelernt, in die es vor der Essenseinladung eingekehrt war. Sie hatten noch Zeit und wollten die babyfreie Zeit zu zweit nutzen. Mit den Amerikanern hatten sie die Kontaktdaten ausgetauscht und diese hatten sie nun ausfindig gemacht.

Die unerwarteten Gäste werden hereingebeten, trinken mit und von nun an läuft der Abend aus dem Ruder.. Das ist die 2. Version der Geschichte.

Der Roman setzt ein paarmal von vorne an und skizziert verschiedene Entwicklungen des Abends – vom gepflegten Essen mit Freunden, bis zum ausschweifenden Alkoholkonsum mit sich anbahnenden Dramen. Es gibt Einsprengsel der Rezepte, die gegen Ende hin nur noch aus Getränkezutaten bestehen.

Witzig, zynisch – macht Spaß

 P.Z. 

 

Elke Heidenreich:  Frau Dr. Moormann & ich

Elke Heidenreich erzählt von einer nachbarschaftlichen Hassliebe:  Im Garten von Frau Dr. Moormann ist alles sauber gestutzt, aufgeräumt und ordentlich gefegt. Bei der Nachbarin Elke (die Autorin) herrscht das Gegenteil: wildwuchernders Grün, ein Baum der Laub abwirft, und noch dazu ein bellender Mops. Nichts kann man rechtmachen: das Klavierspiel ist zu laut, der Hund bellt während des Mittagsschlafs, die Freundinnen lachen zu laut beim Waffelbacken. Das Verhältnis ist von Verdächtigungen, Neid und Missverständnissen geprägt.  Als einer der vier Teddybären der Autorin, die anscheinend ein Weigenleben führen, heimlich den Weg über den Zaun schafft, und Gustav, der Mops im Bett der kranken Frau Dr. Moormann schlafen darf, entspannt sich die Lage und die Nachbarin entpuppt sich als doch ganz nett.      

Im Stil ist die Erzählung wie für Kinder geschrieben. Es ist eine nette, witzige Geschichte über die einfachen zwischenmenschlichen Dinge, die das Zusammenleben gleich viel schöner machen.

P.Z.

 

Carsten Henn:  Butterbrotbriefe

Carsten Henn, geboren 1973 in Köln, ist ein deutscher Autor und Journalist. Bekannt wirde er mit seinem Roman "Der Buchspazierer".

In Carstens neuem Roman geht es um die Frage, ob das Schicksal, der Zufall oder unser freier Wille unser Leben bestimmt. Geben wir selbst unserem Leben die Richtung oder bestimmen andere dies?                                                                                Die Protagonistin, die 39-jährige Kati, will endgültig ein neues Leben beginnen und verfasst handgeschriebene Abschiedsbriefe für alle, die in ihrem kleinen Heimatort ihr Leben beeinflusst oder geprägt haben. Sie schreibt diese Briefe alle auf Butterbrotpapier, das ihr Vater über Jahrzehnte gesammelt und ihr hinterlassen hat. Ihre Eltern sind beide tot, doch ihr schrulliger Onkel lebt ganz in ihrer Nähe und ist nicht nur ihr Vertrauter, sondern ihre enge, geliebte Bezugsperson. Dieser trägt lange ein Geheimnis mit sich herum, das sich am Ende der Geschichte lüftet.                                                                                                                                                                                                                                                                                          Dann trifft sie einen jungen Mann, Severin, der sie komplett durcheinander bringt. Er lebt nach einem Schicksalsschlag gerade "auf der Straße". Bei einem von Katis Haarschneideterminen auf dem Dorfplatz für alle Obdachlosen, die sich einen Friseur nicht leisten können, erhält auch Severin einen Haarschnitt. Berufsmäßig ist Kati im Büro angestellt, doch eigentlich wäre sie gerne Friseurin geworden und hätte gerne im Friseurladen des Ortes gearbeitet. Dort hat sie ihre Jugendzeit oft verbracht und nach und nach das Handwerk gelernt. Sie lebt ihre Leidenschaft dafür nun auf diese soziale Weise aus.  Die beiden begegnen sich wieder, kommen sich näher.                                                                                                                          Eine poetische Geschichte über Liebe und Freiheit, über den Wunsch nach Unabhängigkeit und dennoch Zugehörigkeit und über Menschen, die einen im Leben und auf dem Lebensweg beeinflussen und evtl. das Schicksal mitbestimmen.

 

Elisabeth Sandmann:  Porträt auf grüner Wandfarbe

Roman über die Suche nach der Vergangenheit und die Aufklärung von Familiengeheimnissen.

Gwen, Übersetzerin in London, will eigentlich mit ihrer Freundin Laura Urlaub in Italien machen, als sie einen Anruf von ihrer Tante Lilly bekommt. Zwei Jahre nach dem Mauerfall sind die Grenzen zur DDR, und weiter bis nach Polen offen. Die betagte Tante möchte ihr alte Freundin Lotte aus Ostberlin besuchen und gemeinsam mit dieser das Gutshaus in Köslin, auf dem sie mit 2 Geschwistern und einer Halbschwester aufgewachsen ist. Die Familie musste das Anwesen im 2. Weltkrieg fluchtartig verlassen, aber es soll noch stehen. Für Gwen ist das die Chance, den ungeklärten Geschehnissen in ihrer Familiengeschichte nachzuspüren und vielleicht auch einen Hinweis für den Selbstmord ihrer Mutter Marga zu bekommen. Als sie ihrem Vater von er bevorstehenden Reise erzählt, bekommt Gwen eine vergessene Schachtel, ein Vermächtnis ihrer Mutter, mit auf den Weg. Inhalt der Schachtel sind die aufgeschriebenen Lebenserinnerungen von Ella, Margas Ziehmutter, angefangen im Jahr 1911.

Und mit Hilfe dieser Aufzeichnungen und den Entdeckungen und Enthüllungen während der Reise nach Köslin erschließt sich Gwen ganz allmählich die ganze komplizierte Geschichte ihrer Familie, die über Polen nach Bayern, Palästina, Südamerika und nach England verstreut war.

Der Roman ist spannend, schwierig sind zunächst die vielen Namen und Familienkonstellationen, manchmal ist die Sprache etwas trivial – aber es entwickelt sich eine komplexe und schlüssige Familiengeschichte über fast ein Jahrhundert hinweg. 

P.Z. 

 

Ulrich Woelk:  Mittsommertage

( „Der Sommer meiner Mutter“)

Es ist die Geschichte eines erfolgreichen Paares im mittleren Alter in Berlin:  Ruth hat beruflich alles erreicht: sie ist Ethikprofessorin und soll nun in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Ihr Mann Ben gewinnt gerade als erfolgreicher Architekt einen großen Wettbewerb und die Ziehtochter Jenny studiert in Leipzig. Nach der Corona Pandemie bekommt das Leben seine Leichtigkeit zurück, es ist Sommer und Ruth genießt das Leben – bis sie eines Morgens bei ihrer Joggingrunde plötzlich von einem Hund ins Bein gebissen wird.

Sie ignoriert den Biss, muss aber am Abend, den sie eigentlich mit Ben in einem schönen Restaurant verbringen wollte, in die Klinik um die schmerzende Wunde behandeln zu lassen.

Innerhalb einer Woche kommt es zu einer Kette von Ereignissen, die Ruths Leben verändern. Eine Aussage während eines Interviews zum Thema Kinderkriegen wird im Artikel zu ihren Ungunsten interpretiert, Bens erfolgreicher Architekturwettbewerb überdeckt ihre Berufung in den Ethikrat, und dann ist plötzlich Stav da: Ruths Jugendliebe. Mit ihm taucht die Vergangenheit wieder auf und bringt Ruth als Ethikerin in Gewissenskonflikte. Als Studenten hatten sie gemeinsam einen Strommast umgesägt um gegen die Atomenergie zu protestieren. Der Anschlag wurde nie aufgeklärt und von Ruths Vergangenheit als Umweltaktivistin weiß nicht einmal ihr Mann. Dieser will nun aber die Verbindung zu Stav wissen und so erzählt sie ihm und der Stieftochter alles und zeigt auch die Fotos und ein Bekennerschreiben zu dem Anschlag. Am Tag danach ist alles in den sozialen Medien mit der Folge, dass Ruths Glaubwürdigkeit an der Uni und besonders im Ethikrat zweifelhaft ist und sie sich öffentlich erklären muss. Jenny, selbst Aktivistin und der “Letzten Generation“ zugehörig, hatte voller Stolz auf die Protestaktion ihrer Stiefmutter ein paar Fotos verschickt, die sich im Netz explosionsartig verteilten. Noch dazu muss Ruth erkennen, dass Ben ein Verhältnis mit einer neuen Kollegin hat. Nach all diesen Umbrüchen muss Ruth ihr Leben wieder neu sortieren, sie steht zu ihrer Vergangenheit und am Ende versöhnt sie sich auch mit einem kleinen Hund.

Der Roman thematisiert aktuelle Klima- und Tierwohlfragen besonders aus der Sicht der Ethikstudenten , die Konflikte der Generationen und die Risse in den Fassaden bürgerlicher Lebensentwürfe.

P.Z. 

 

Kristine Bilkau:  Wasserzeiten

(„Nebenan“)

„Schwimmen, das ist die Einheit von Ort und Zeit, Körper und Gedanken“

Kristine Bilkau hat eine Liebeserklärung an das Schwimmen in diesem kleinen Buch geschrieben.

Sobald das Freibad in ihrer Stadt im Frühling öffnet, geht sie regelmäßig zum Schwimmen bis zu den letzten wehmütigen Bahnen im Herbst, wenn es wieder schließt. Sie beschreibt die Leichtigkeit des Seins im Wasser, ihre Gedanken und Erinnerungen während des Schwimmens. Für sie ist es ein Glück, überall wo es eine Möglichkeit zum Schwimmen gibt, diese auch wahrzunehmen – sei es in einem kleinen Betonbecken oder in Schwimmbädern irgendwo auf der Welt, oder in der Weite des Ozeans. Sie erzählt von ihrem Vater, der ihr das Schwimmen beigebracht hatte und dem Schwimmkurs, in dem sie als Erwachsene das Kraulen gelernt hat. Das Schwimmen bei Kälte probiert sie aus und wird fast süchtig nach dem, was dieses im Körper auslöst (nämlich Glückshormone!)

Auch die Geschichte des Frauenschwimmens wird erwähnt, Schwimmen in der Literatur und im Film. Gerade jetzt, wo viele Kommunen aus finanziellen Gründen die Bäder schließen, plädiert sie dafür, dass möglichst viele Menschen freien Zugang zum Schwimmen haben sollten und die Kinder das Schwimmen erlernen.  P.Z.

 

Christoph Peters:  Der Sandkasten

Gegenwartsroman über die Befindlichkeit der Bundesrepublik anhand politischer und gesellschaftlicher Zustände, wie sie tagtäglich in den Medien vermittelt werden. (Als Vorlage erwähnt der Autor das Buch „Das Treibhaus“ von Wolfgang Koeppens um einen ehemaligen Journalisten, der in den Nachkriegsjahren Abgeordneter im Bundestag ist)

Vertreter des Medienbetriebs ist der sehr bekannte Hauptstadtjournalist und Radiomoderator Kurt Siebenstädter. Er hat eine morgendliche Politsendung von 5-8 Uhr, in der er bevorzugt Politiker zu aktuellen Themen befragt und dabei die offizielle Wahrheit in Zweifel zieht. Seine Fragen sind sehr direkt und oft am Rande der Höflichkeit /des guten Geschmacks, er bohrt in Wunden und provoziert. Er sieht sich als Aufklärer, der seinen Zuhörern politisches Denken und die Machenschaften hinter den Kulissen nahebringen will. Jahrzehntelange Erfahrung in der Berliner Spitzenpolitik, mit dem gnadenlosen Streben nach Machterhalt haben ihn zu einem berüchtigten Aufdecker werden lassen. Mit Anfang 50 fühlt er sich nun am Ende seiner Karriere angekommen. In der Redaktion gilt er als Reaktionär, seine Art zu interviewen nicht mehr zeitgemäß – es wir an seinem Ast gesägt. Ein Angebot der Liberalen für den Job des Pressesprechers bringt ihn in eine Glaubenskrise.

Als Person wird er als Unsympath beschrieben, die Ehe ist festgefahren, die Tochter pubertär, er träumt von Seitensprüngen, ist arrogant und schlechtgelaunt. Er sieht das Ende und setzt alles auf eine Karte.

Der Roman bietet Einblicke in das politische und gesellschaftliche Geschehen im Jahr 2020. In den USA hat es gerade einen Präsidentenwechsel gegeben, Deutschland bereitet sich auf die 3. Coronawelle vor. Es ist eine aufgeheizte Stimmung und die Stellungnahmen von Politikern, Sachverständigen, Querdenkern führen zu grundlegenden Debatten im Land. Auch wenn die Namen geändert sind, werden doch einzelne Personen erkennbar, wie Spahn, Lindner , Kubicki, Drosten.

P.Z.

Thorsten Pilz:  „Weite Sicht“

Charlotte ist 71, gerade ist ihr Mann Friedrich gestorben. Der Roman beginnt mit ihrem allmählichen Begreifen und den Gedanken und Erinnerungen, die ihr während der nächsten Stunden und Tage spontan in den Sinn kommen. Drei Frauen begleiten sie: ihre Schwester Gesine, die Adoptivschwester Sabine und Bente, die nach jahrzehntelangem Schweigen aus Dänemark angereist kommt.

In Kapiteln, die die Tage nach Friedrichs Tod zählen, wird die Handlung szenenartig erzählt.   Es kommen die Kinder von Charlotte dazu, Franziska und Matthias, der Bruder Johannes, jede und jeder mit seiner eigenen Geschichte. Die Beziehungen der Personen untereinander bekommen in diesen szeneartigen Handlungen allmählich Konturen, es entsteht eine Geschichte über die Familie, über die Ehegeheimnisse von Charlotte und Friedrich, und ganz besonders die Freundschaft und Liebe zu Bente, die nach langer Zeit wieder aufleben kann und von beiden nie vergessen war.

Abschied und Neuanfang, Wahrheiten, Verletzungen und Verzeihen und letztendlich die Chance am Ende zu sich selbst kommen – das ist die Geschichte, mit vielen klugen Erkenntnissen über die Facetten der Liebe und Beziehungen der Menschen untereinander.  P.Z.

 

Ferdinand von Schirach:  Regen – Eine Liebeserklärung

Theatermonolog, den Schirach selbst auf die Bühne bringt (Termine liegen dem Buch bei)

Schriftsteller, Ende 50, wird zum Schöffen bei einem Mordfall berufen. Als er dem Angeklagten die Frage stellt, welche Strafe dieser sich selbst geben würde, wird er von der Verteidigerin als befangen erklärt. Er soll eine dienstliche Erklärung schreiben, ob er sich befangen fühle. Vom Regen durchnässt sitzt er nun dem Tatort gegenüber in einem Café und sinniert über den Begriff der Befangenheit.

In dem Text richtet er das Wort direkt an den Leser. Er reflektiert den Mordfall und seine Gedanken schweifen ab, zu eigener Schuld am plötzlichen Aneurysma Tod der geliebten Frau und eigenen philosophischen Ansichten über das Leben. Immer wieder erwähnt er dabei die morgendliche Begegnung mit dieser Frau auf einer Dachterrasse in Athen, die der Anfang seiner Liebe war, schweift aber wieder ab um einen Gedanken weiter zu verfolgen. Am Schluss der 57 Seiten, der Regen hat fast aufgehört und der Schriftsteller, der sich selbst als lächerlich bezeichnet, weil er seit ihrem Tod vor 17 Jahren nichts mehr geschrieben hat, hat eine Antwort für sich und die Motivation zum Schreiben wieder gefunden.

Im Anschluss an die Erzählung ist ein langes, sehr persönliches Interview mit Ferdinand von Schirach abgedruckt.

P.Z.

 

Bettina Storks:  Die Poesie der Liebe – Ingeborg Bachmann & Max Frisch

Ingeborg Bachmann ist am 17.Oktober vor 50 Jahren mit 47 Jahren gestorben, Max Frisch 1991.

Zu dem Anlass hat die Regisseurin Margarethe von Trotta den Film „Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste“ gedreht, der bereits vorab beim diesjährigen Filmfest in Starnberg gezeigt wurde.

Die Autorin Bettina Storks hat über das literarische Werk Ingeborg Bachmanns promoviert und für den Roman zahlreiche Quellen, wie Biografien und Briefwechsel zu Hilfe genommen. Sie bezeichnet selbst den Roman als ihren „Herzenswunsch“.     Thematisiert werden die 4 Jahre der Liebesbeziehung zwischen Bachmann und Frisch, die in einem Pariser Café begann, nachdem Frisch seine Bewunderung für Ingeborg Bachmanns Lyrisches Werk in einem Brief an sie und der Bitte um ein Treffen geschrieben hatte. Die Beziehung war nicht einfach, von Freiheitsliebe Bachmanns und traditionellen Vorstellungen Frischs geprägt. Gemeinsam lebten sie in de Schweiz und in Ingeborg Bachmanns Wahlheimat Rom. Sie hatte Affären und Freundschaften zu mehreren Männern, meist Künstlerkollegen, und war beruflich viel auf Reisen. Ihre Persönlichkeit war die einer Fragenden, Suchenden, sie liebte das Geheimnisvolle. Max Frisch dagegen war eher bodenständig, strukturiert und klar, aber chronisch eifersüchtig. Nach einem Höhenflug der Gefühle und dem Anspruch, „das erste Paar“ zu sein, scheitern beide in ihrer Liebe zueinander und stürzen in den Abgrund. Ingeborg Bachmann kommt von ihrer Tablettensucht nicht mehr los, Max Frisch heiratet die wesentlich jüngere Marianne Oellers, bleibt aber Ingeborg Bachmann zeitlebens verbunden, auch wenn sie sich nicht mehr sehen. In dem Roman werden beide Seiten beleuchtet, die Autorin beschränkt sich auf die Gefühlslage und Zustände der beiden in wechselnden Kapiteln. Vieles ist fiktiv, aber gut recherchiert und nachvollzogen. Der Roman gibt einen fesselnden Einblick in diese spezielle Liebesgeschichte und versucht Beziehungen zu verstehen.                                                            

P.Z.

 

Bettina, Storks - Die Kinder von Beauvallon

Nach einer wahren Begebenheit.

1940 im sudbadischen Sulzburg wird Familie Blom mit weiteren Juden auf die Ladefläche eines LKW's gepfercht und vorläufig nach Gurs in Frankreich deportiert. Agnes, die 9 jährige Freundlin von Lily Blom, reicht dieser zum Abschied nochmals die Hand und Lily trennt ein Foto von den beiden Kinderfreundinnen auseinander und reicht es Agnes. Wir werden uns wiedersehen: ruft Agnes ihr noch nach, während der LKW hinter einer Kurve verschwindet. Agnes, 1965, inzwischen beim Radiosender in Freiburg beschäftigt und Moderatorin mit einer schönen Stimme und bei den Zuhörern sehr beliebt. Doch eines Tages beauftragt sie ihr Chef über "Jüdische Kinder aus Südbaden" zu recherchieren. Während des Zweiten Weltkrieges hat ein Dorf in der französcischen Drome namens  Dieulefit unzählige Flüchtlinge, darunder auch jüdische Kinder aus Südbaden, versteckt. Für Agnes beginnt ein Abenteuer und auch die Suche nach ihrer Kindfreundin Lily.In abwechselden Kapiteln wird die Deportation, Flucht und Unterbringung von Lily in Beauvallon, dem Internat in Dieulefit beschreiben und von Agnes, die sich auf Spurensuche nach 23 Jahren der Verschleppung von Lily und ihrer Familie, begibt. Dazu handeln einige Kapitel von Jolie der Fluchthelferin für jüdische Kinder. Jolie gehört der Widerstandsbewegung an und bringt Kinder aus den Deportationslagern in Sicherheit. So auch Lily mit anderen Kindern zusammen nach Dieulefit. Wie Agnes ihre Freundin Lily findet - beide jetzt erwachsen - ist sehr spannend und einfühlsam geschildert. Trotz aller Dramatik, zuweilen auch Grausamkeit, ist viel Liebe, Vertrauen, Mit und Freundschaft zu spüren. Ein Buch, eine Geschichte, eine wahre Geschichte, die zu Herzen geht und zum Nachdenken veranlasst. 

Sehr empfehlenswert!

Dorle Lautenschlager

 

 

"Mütter, Väter und Täter" von Siri Hustvedt

Siri Hustvedt ist eine nordamerikanische Autorin mit norwegischen Wurzeln.

Die New Yorker Autorin schreibt in ihren neuesten Essays über Familienerinnerungen, Literatur, literarischen Vorträge und beeindruckenden Aufsätzen zu Themen, die ihr wichtig sind. Es ist ein Nachdenken über die Welt und über sich, aus feministischer Sicht und Erfahrung. Ein wichtiger Blickwinkel, der vieles aufgreift, was Frauen und das Verhalten zu ihnen nach wie vor prägt und das nach wie vor geäußert werden muss.

In einem Teil aggressiven Stil geschrieben, der gut tut.

 

 

"22 Bahnen" von Caroline Wahl

Caroline Wahl ist gebürtig aus Heidelberg und lebt seit einem Jahr in Rostock. Ihr Debüroman sorgte schon vor seinem Erscheinen für viel Aufmerksamkeit in den Feuilletons. Geschrieben hat sie das Buch während eines Auslandsaufenthaltes in Zürich und rauschte in drei Monaten durch den Text.

Die Mathematikstudentin Tilda jobbt in einem Supermarkt an der Kasse, in dem auch der Roman beginnt. Es ist vornherein ein Ort, an dem sie Gesellschaftsstudien macht, an dem sie Personen anhand ihrer Einkäufe beurteilt, ohne die Person vorher anzusehen. Schon ein witziger Beginn der Geschichte. Die Spannung und der Esprit halten sich durch den ganzen Roman. Das Schwimmbad ist ein weiterer cooler, öffentlicher Ort. Dort geht sie regelmäßig mit ihrer kleinen Schwester Ida hin. Es ist ein Ort, der sie ablenkt von den familiären Problemen. Ihre Mutter ist alkoholkrank, Tilda stemmt das Kümmern um die Schwester, den Haushalt, die Finanzen alleine, einen Vater gibt es nicht.

Der Roman nimmt einen mit in das Leben der jüngeren generation. Kurzweilig, liebevoll, teilweise knallhart, dann wieder zart und zerbrechlich, und auch mit einem Hauch von Verliebtsein. So würde ich das Werk beschreiben. Empfehlenswert!

 

 

"Melody" von Martin Suter

Martin Suters neuester Roman nimmt einen mit in die Welt eines sehr wohlhabenden alten Mannes, der seinen Nachlass geordnet haben möchte. In den wenigen Monaten, die ihm noch blieben, engagiert er einen jungen Juristen, der für ihn dies regeln soll und der ihm sein Leben so dokumentiert, wie er es wünscht.

Der arbeitslose junge Mann nimmt das Jobangebot an, zieht bei dem alten Herrn in seine Villa ein, Kost und Logie gratis, erhält ein unglaublich hohes Gehalt und wird auch zum täglichen Gesprächspartner des sehr bekannten, ehemals in der Politik und Wirtschaft mitmischenden Herren. Im Mittelpunkt jedoch steht die Geschichte einer Frau, Melody, die der alte Mann liebte und die plötzlich verschwand.

Nach und nach wird die Geschichte immer mysteriöser. Die Spannung hält sich bis zum Schluss. Unterhaltsam, etwas konventionell, aber immer mit viel Humor geschrieben, geht man mit dem Journalisten auf die Suche nach Melody.

 

Layla AlAmmar:   Das Schweigen in mir 

Layla AlAmmar wuchs in Kuwait auf und lebt zur Zeit in Großbritannien.  Die Geschichte im Roman wird von der jungen Ich-Erzählerin Rana Halabi erzählt. Nach ihrer Flucht aus Syrien lebt sie in England in einer Hochhaussiedlung alleine in einem Appartment. Ihre Tage verbringt sie mit der Beobachtung der Nachbarn, das was sie in den Fenstern gegenüber sehen kann, die Geräusche und Gespräche der unmittelbaren Nachbarn, die Ereignisse im Hof und in dem sehr begrenzten Bewegungsradius, der bis zum Lebensmittelladen des Pakistaners Hasan, dem Waschsalon, einem Buchladen und bis zur Moschee reicht.

Sie gibt den Menschen Namen, je nach den Tätigkeiten, die sie beobachtet: Z.B. wohnt „der Entsafter“, East Tower, 4. Stock, Wohnung 3, direkt gegenüber. Er ist Gesundheitsfanatiker und hat wechselseitigen Frauenbesuch. „Der Dad“, South Tower, 2. Stock, Wohnung 3, misshandelt seine Frau, der Sohn schließt sich einer Rassistengruppe an, die Tochter hat Fluchtpläne. „Mann ohne Licht“ macht das Licht nur an, wenn er Besuch hat.

Rana hat ihre Sprache verloren, sie hat sonst keinen Kontakt zu den Nachbarn, manche halten sie für taub. Wenn sie kommuniziert, schreibt sie auf Zettel. Sie ist Journalistin und schreibt für ein online Magazin ihre Erinnerungen in regelmäßigen kleinen Artikeln, unter dem Pseudonym „Die Stimmlose“.  Und so ist der Roman aufgebaut:  Beobachtungen und Eindrücke in ihren Exilheimat wechseln mit Erinnerungen an die Heimat in Syrien, die Familie, den Bürgerkrieg, die Gruppe im Widerstand, ihre Liebe zu Khalid und den Erlebnissen auf der Flucht ab. Es sind sehr eindrucksvolle, manchmal kaum auszuhaltende Schilderungen aus dem Kriegsalltag, die ständige Angst, Folter, Tote, die Ohnmacht. Dann die unglaublichen Strapazen der Flucht, zusammengepfercht in Lastwägen, tagelangen Fußmärschen, Übergriffen von Polizisten und anderen Männern, Schmerzen, Dreck, Hunger. England sollte Sicherheit bieten, aber auch da ist sie Fremdenhass und antimuslimischen Anfeindungen und Angriffen ausgeliefert.  Über all das schreibt sie und es hilft ihr, ganz allmählich in ihrem neuen Leben anzukommen.

Die Autorin verarbeitet in dem Roman keine autobiografische Fluchtgeschichte, lässt einen aber die Ich -Erzählerin als reale Person wahrnehmen. In der Danksagung richtet sie einen besonderen Dank an einen jungen Syrer aus Aleppo, der ihr seine Geschichte erzählt hat. Ich nehme an, sie hat einiges übernommen.

Es ist eine eindringliche Geschichte, die einen Eindruck davon gibt, was es bedeutet, geflüchtet zu sein, und die zum gegenseitigen Verständnis beiträgt.

Zitat: „Im Prinzip wollen wir alle dasselbe: Freiheit, Glück, Sicherheit“.

Nur: manche Menschen haben das Glück, in so eine Gesellschaft hineingeboren zu werden, andere nicht.

P.Z.

 

Daniel Glattauer:  Die spürst du nicht

(Gut gegen Nordwind) 

Bitterböses, zynisches Porträt einer Gesellschaft, deren Mitglieder aus Fassaden bestehen :  die grüne Politikerin, die sich als Gutmensch ausgibt, eine Ehe, die nur noch aus Statusgründen aufrecht erhalten wird, eine Tochter, die nach außen funktioniert aber in der Welt der sozialen Medien verschwindet, ein Staranwalt, der nur auf Ruhm und Profit aus ist..

Zur Handlung:

Zwei befreundete, gut situierte Familien reisen in eine gemietete Villa in der Toskana um einen gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Alles scheint perfekt zu sein, das Wetter ist schön, die Villa luxuriös, der Wein und das Essen köstlich. Es werden große Worte geschwungen, man thematisiert den eigenen Erfolg und das gute Leben. Die 14jährige Tochter Sophie Luise der Grün-Politikerin Elisa darf eine Schulfreundin mit in die Ferien nehmen, angeblich ihre momentan beste Freundin. Das war nicht so einfach, Aayana stammt aus einer streng muslimischen Familie aus Somalia, die Eltern stimmen nach langen Bedenken zu, geben der Tochter aber einen dicken Brief mit, der wichtige Hinweise und Bitten enthält. Dieser Brief taucht aber erst Monate später bei der Gerichtsverhandlung auf, Sophie Luise hatte ihn vergessen und dann versteckt. Man ist sich einig: das Flüchtlingsmädchen ist ruhig und zurückhaltend – „Die spürst du nicht“ –  Sophie Luise will ihr das Schwimmen beibringen und das gute westliche Leben zeigen.

Schon der erste Abend beendet mit dem Ertrinkungstod Ayanas im Swimmingpool den Urlaub, beide Familien reisen am nächsten Tag ab. Die polizeiliche Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um einen tragischen Unfall handelt und keiner der Anwesenden eine Schuld daran trägt. Die Erleichterung ist groß, man möchte den Fall gerne abschließen und ins normale Leben zurückkehren

Aber diese Katastrophe enthüllt Lebenslügen, Fassaden, die Freundschaft der beiden Frauen zerbricht, die Politikerin Elisa ist einer gnadenlosen Hetze im Netz ausgeliefert. Sophie-Luise wird in der Schule zur Klassenanführerin zur Ausgestoßenen und als „Mörderin“ beschimpft. Die Medien berichten genüsslich, und als ein dubioser Anwalt auftaucht und eine Forderung der Familie Aayanas über ein Schadensgeld von über 200 000 € stellt, eskalieren die Ereignisse.

Alles dreht sich um die einstürzende Welt der Privilegierten, das Schicksal der somalischen Flüchtlingsfamilie wird übersehen. Niemand kümmert sich um sie, keiner spricht sein Beileid aus. Die Kommentare im Netz sind meist rassistisch geprägt.

Erst ganz am Ende des Prozesses bekommt die Familie eine Stimme. Die Hintergründe der Flucht und die ganze tragische Geschichte kommen ans Licht und zum ersten Mal richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Flüchtlinge.

Es gibt Sätze in dem Roman, die sind schwer auszuhalten. Trotzdem liest sich der Roman gut und spannend. Glattauer formuliert das Thema so: Es geht

"Um Menschen, von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren."

P.Z. 

 

"Über Land“  von Raynor Winn

Raynor Winn, 1962 geboren, ist eine britische Autorin und Weitwanderin. Sie und ihr Mann Moth verloren 2012 gleichzeitig ihr Haus, ihre Ersparnisse und ihre Erwerbsmöglichkeit. Ihr schwerkranker Ehemann erhielt gleichzeitig die Prognose, dass es keine Therapie für seine seltene Krankheit gibt und er unheilbar krank wäre. Obdachlos und mit wenig Geld beschlossen sie daraufhin, den 1014 km langen South West Coast Path von Wales bis Cornwall zu wandern. Raynor Winns Erzählung dazu, „Salzpfade“, wurde ein weltweiter Erfolg.

Ihr neuestes Buch „Über Land“ beschreibt ihre und Ehemann Moth Wanderung auf dem Cape Wrath Trail im hohen Norden Schottlands. Ehemann Moth Krankheit hatte sich nach der ersten Wanderung auf dem Coast Path verschlimmert. In der Hoffnung, dass sich seine Symptome und die Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands vielleicht durch eine Wanderung wieder verbessert, wie bei der ersten Tour, lässt sie aufbrechen. Die anfängliche Zwei-Wochen Tour auf einem der schwierigsten und gefährlichsten Wanderwege Schottlands bewältigen sie und entscheiden, weiter zu wandern, bis sie am Ende unglaubliche 1500 km vom Norden  Schottlands nach Cornwall im Süden Englands gewandert sind, ihrem heutigen Zuhause.

Es ist eine Geschichte über Angst vor dem großen Verlust, Mut, Liebe und die heilende Kraft der Natur. Sensibel werden die unterschiedlichen Landschaften mit ihrer Flora und Fauna beschrieben, die Stille, die Freuden an kleinen Dingen. Aber auch die Mühen des Wanderns beschreibt sie bildhaft, oft mit viel Witz und Humor: sei es Stürme, Dauerregen oder die unendlichen Schwärme von Mücken und Bremsen.

Raynor zeigt auch unermüdlich auf, wie zerstörerisch große Unternehmen und Investoren von Schottland bis hinunter nach Cornwall die reiche Vielfalt der Natur mit ihren zerstörerischen Eingriffen in die Natur für immer verändern und vernichten.

Bewundernswert, was diese zwei Menschen mit ihrem Willen und ihrer Kraft und ihrer positiven Einstellung erreichen.

 

Ewald Arenz:  Die Liebe an miesen Tagen

(Der große Sommer,  Alte Sorten)

Liebesgeschichte eines Paares im mittleren Alter.

Clara, Ende 40 und Elias, Ende 30, treffen sich zufällig, als Elias, aus einer Laune heraus, mit seiner Freundin das kleine Haus auf dem Land besichtigt, das Clara verkaufen möchte. Unbeabsichtigt macht er beim Stolpern auf der Terrasse einen Kniefall vor ihr, Clara ist amüsiert und auch sein Wortwitz zieht sie an. Genauso andersherum Elias. Er ist Schauspieler am Theater und steckt in einer Beziehung fest, die sich für ihn nicht richtig anfühlt. Clara geht auf seine Wortspielereien ein, mit ihrem eleganten Kostüm scheint sie sich in anderen Welten als Elias zu bewegen. Sie hat soeben ihre Kündigung als Fotografin einer Zeitschrift bekommen.

Das kleine alte Haus steckt für Clara voller Erinnerungen. Gemeinsam mit ihrem verstorbenen Mann hatte sie es renoviert, in jedem Detail sieht sie das gemeinsame Leben mit ihm. Nun braucht sie Geld und will das Häuschen verkaufen.

Die Begegnung berührt beide. Sie sehen sich wieder, spazieren eine ganze Nacht durch die Stadt und haben die Gewissheit, füreinander bestimmt zu sein und die ganz große Liebe zu erleben. Langsam tauchen sie in das Leben und die etwas schwierigen Familienbeziehungen des/der jeweilig anderen ein, es stimmt alles, auch wenn Clara Bedenken wegen des Altersunterschieds hat. Bis sie ein tolles Jobangebot in Hamburg bekommt – das würde entweder eine Wochenendbeziehung bedeuten, oder Elias müsste sofort seinen Job beim Theater aufgeben, was er nicht kann und will. Nach der Trauer um ihren Mann will Clara eine bedingungslose Beziehung und keine Kompromisse. Sie trennt sich und geht nach Hamburg.

Jetzt hätte ich es spannend gefunden, zu erforschen, ob es eine Lösung und eine gemeinsame Zukunft für beide geben kann. Was im Roman passiert, finde ich trivial: Elias wird schwer krank, es steht eine Herzoperation an, man weiß nicht ob er überlebt. 

Ewald Arenz hat eine feinsinnige Liebesgeschichte geschrieben, aber leider verspielt der Autor die Chance, ohne Dramatik eine überzeugende, stimmige Geschichte über eine große Liebe zu erzählen, die einen in den mittleren Jahren noch treffen kann und die trotz der Hürden des bereits gelebten Lebens noch gelingen kann.  P.Z.

 

 

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